Die Angst der Schweigenden. Nienke Jos. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Nienke Jos
Издательство: Автор
Серия:
Жанр произведения: Триллеры
Год издания: 0
isbn: 9783839265642
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rief jemand. »Kinder?« Eine Männerstimme. Inna hielt Ausschau. Zwei Männer in Wanderschuhen und ein Junge, mit Mützen und Schals und schweren Rucksäcken. Sie hielten lange Geräte in der Hand, der Junge hatte seine Augen weit aufgerissen.

      »Lauf!«, brüllte Jenke.

      »Bleibt stehen!« Der Bärtige der Männer setzte sich in Bewegung. »Du blutest ja.« Er zeigte auf Inna.

      Inna senkte ihren Kopf, starrte auf ihre Hände. Rot. Ihre Hände waren über und über mit Blut bedeckt. Jacke und Hose getränkt. Der Stoff klebte nass an ihren Beinen. Inna wurde schwindelig, aber Jenke packte sie. »Weiter!«, schrie er. Weiter. Innas Beine gehorchten. Jenke. Sie durfte Jenke nicht verlieren. Die erschrockenen Männer hatten die Verfolgung aufgegeben, vielleicht, weil die Rucksäcke zu schwer waren oder weil sie fanden, dass Inna doch keine Hilfe brauchte. Oder weil sie Kinder nicht mochten. Oder weil sie Probleme mit Kindern nicht mochten. Oder generell Probleme. Inna folgte Jenke, obwohl sie ahnte, wohin er wollte. Zur Höhle. Um sich dort zu verstecken. Vor dem Blut. Vor der Kälte. Vor der Angst. Sie tauchten in das schützende Felsenmeer, sprangen, rannten, kletterten. Zwängten sich durch die enge Spalte. Inna japste nach Luft, der kalte Nebel nahm ihr das Denkvermögen. Der Vorsprung, unter ihnen die felsige Schlucht durchmischt mit Farn, Moos, Efeu. Jenke zögerte nicht, kletterte flink hinunter. Hinunter in die Tiefe. Hinunter in die Schlucht, die sie eisig und kalt empfing. Inna war zu langsam, rutschte ab, fing sich wieder, hatte sich die Beine aufgeschürft. Irgendwann verlor sie den Überblick, rollte über Totholz und spitze Steine, riss sich die Hände auf beim Versuch, sich an den Efeuranken festzuhalten. Den Eingang der Höhle ließ sie nicht aus den Augen. Sie musste Jenke aufhalten, ihm sagen, dass die Höhle eine Falle war. Dass sie leicht hinein-, aber nie wieder hinausgelangen würden. Eine unterirdische Höhle, Spuren des ältesten Tiefbaus auf Eisenstein, versteckt in einer bizarren Felslandschaft, umklammert von Buchen und Farn, Totholz, kühlen und feuchten Felsspalten, Klüften, leicht abgedeckt mit losem Zweigwerk und nassem Laub, Schnee, Eis. Lebensgefährlich, deswegen durften sie nicht hier sein, deswegen durften sie nur bis zu den Steinleichen, nicht weiter, niemals. Es würde kein Entkommen mehr geben. Die Höhle war gefährlich, das Felsenmeer unberechenbar, erst recht im Winter, in der Eiseskälte. Hier war niemand unterwegs. Niemand. Sie waren allein. »Wir müssen nach Hause!«, schrie Inna. »Das ist zu gefährlich, wir dürfen nicht weiter, wir dürfen nicht in die Höhle, Jenke, komm zurück!« Niemand würde sie hören, wenn sie um Hilfe riefen. Niemand würde sich hierher verirren. »Wir müssen nach Hause, Jenke!« Sie mussten nach Hause. Nur nach Hause. Zu Edchen und in die Badewanne. Ihre Angst in heißem Wasser ertränken. Das Blut in heißem Wasser ertränken. Das viele Blut.

      Jenke half ihr auf, zog sie zum Eingang der Höhle. »Da rein, schnell.«

      »Ich habe Angst, Jenke. Ich will nicht da rein. Was, wenn …«

      »Wir haben keine Zeit!«, brüllte er panisch.

      Inna schob sich bäuchlings mit den Füßen voran in das schwarze Loch, in den winzigen Eingang, spürte keinen Boden mehr unter ihren Beinen, krallte sich mit den Händen ans Efeu, an gefrorene Erde, es roch kalt und modrig. »Jenke!«, schrie sie. »Jenke!« Immer tiefer rutschte sie, versuchte, sich festzuhalten, flehte mit weit aufgerissenen Augen ihren Bruder an.

      Sie schaute auf.

      Igor stand ihr gegenüber, mit offenem Mund, die Teller noch immer in der Hand. Er starrte sie entgeistert an.

      »Wir haben Verstecken gespielt. Einen ganzen Winter lang.« Inna lachte. Das Lachen schleuderte gegen die Fenster. Schnee rutschte hinab. Hinab in die Tiefe.

      Wie Inna, wenn sie an die Höhle dachte.

      11

      Marga rannte am Haus vorbei in die Scheune und holte Giselas Trense.

      »Gisela!«, rief sie außer Atem. »Gisela, jetzt!«

      »Marga, was machst du denn da?«

      Marga schaute erschrocken auf.

      Mama stand im Nachthemd am Schlafzimmerfenster und blickte zu ihr in den Hof. »Es gibt Frühstück!«, rief sie.

      »Ich kann jetzt nicht«, antwortete Marga schnell. »Ich habe zu tun. Leider.«

      »Und was genau hast du vor?«

      »Es hat geschneit, siehst du das denn nicht?«

      »Willst du Gisela retten?«

      »Nein!«, rief Marga zurück. »Nicht Gisela.« Marga zeigte auf den See, zog ihre Hand erschrocken wieder zurück. Sie durfte nichts verraten.

      »Keine Experimente, hörst du?«

      »Meinst du, Gisela könnte einen Schlitten ziehen?«

      »Marga!«

      »Das Weihnachtsfest fällt aus, und ich bin schuld. Ist dir das etwa egal?«, fragte Marga empört. »Gisela ist die Einzige, die noch helfen kann.«

      »Wir fahren gleich in die Stadt, den Großeinkauf erledigen. Anschließend zünden wir für Oma Gitte eine Kerze an.«

      »Ich bleibe hier!«, rief Marga entschlossen.

      »Zum Friedhof, Marga. Oma wird sich freuen.«

      »Oma ist tot. Wie soll sie sich da freuen?«

      »Hör auf, so etwas zu sagen«, schimpfte Mama.

      Marga antwortete nicht. Stattdessen reparierte sie die Trense, während Gisela unbeteiligt im Schnee wühlte.

      »Rein mit dir!«, rief Mama.

      Marga stapfte ins Haus, setzte sich mürrisch an den Frühstückstisch.

      »Dann bleibst du eben mit Opa hier«, schlug Mama vor.

      »Ich muss Zeitung lesen«, brummelte er.

      »Aber doch nicht den ganzen Tag?«

      »Egal«, winkte Marga ab. »Ich habe sowieso zu tun.«

      »Und wer passt jetzt auf wen auf?« Mama wischte Roberts Mund sauber. »Sag doch auch mal etwas dazu!«

      Papa schlürfte seinen Kaffee. »Was denn?«

      »Marga möchte hierbleiben.«

      »Und?«

      Mama seufzte, räumte den Tisch ab, wickelte Robert auf der Couch, stopfte Windeln und Lätzchen in eine Tasche, holte ein Gläschen Obst und einen Löffel aus der Küche, zwängte einen wütenden Robert in seinen Schneeanzug und erteilte Befehle. Marga saß ungeduldig auf der Treppenstufe und wartete. Dann endlich öffnete Mama die Haustür, schleppte Robert und das Gepäck zum Auto, setzte ihn in den Sitz, während Marga summte und mit einer Rassel über seinem Kopf herumzappelte.

      »Was bin ich froh, dass du schon so groß bist, Marga«, betonte Mama. »Sechs Jahre schon. Das ist so, so groß«, quietschte sie. »Opa ist im Haus. Er hat den Kamin angefeuert und sich auf das Sofa gelegt. Du könntest zu ihm gehen, er liest dir bestimmt etwas vor.« Sie küsste Marga auf den Kopf. »In der Küche steht noch ein Teller mit Plätzchen und in der Tiefkühltruhe ist Pizza. Vielleicht könnt ihr eure Figuren weiter schnitzen oder aus Mandarinen neue Anhänger …«

      »Anni, bitte!«, unterbrach Papa genervt.

      »Und nicht raus auf den See«, befahl Mama.

      Marga nickte ernst und winkte brav, als ihre Eltern vom Hof fuhren, dann lockte sie Gisela in den Unterstand. Sie verlor fast das Gleichgewicht, so gierig suchte das Schwein nach den Eicheln in ihrer Tasche. Sie packte Giselas Ohren und zog sie durch die schmale Tür in den Schuppen. »Du bist viel zu dick. Ist ja wie durch eine Katzenklappe«, motzte sie. Entschlossen stemmte sie sich gegen Giselas Hintern, dabei berührte sie mit ihrer Wange versehentlich die verkrusteten Borsten. Sie verzog das Gesicht. »Du stinkst«, beschwerte sie sich. Ihr fiel das verweste Katzenbaby ein, das sie im Sommer hinter der Scheune gefunden hatte. Sie würgte.

      Gemeinsam stapften sie durch den tiefen Schnee zum Weihnachtsmann, und während Gisela genüsslich die letzten Eicheln