Die Angst der Schweigenden. Nienke Jos. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Nienke Jos
Издательство: Автор
Серия:
Жанр произведения: Триллеры
Год издания: 0
isbn: 9783839265642
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köpfte sein Frühstücksei. Mit einer einzigen schnellen Bewegung. Er ließ Jenke nicht aus den Augen, als er mit bloßen Händen in das Salztöpfchen griff und ein paar Körner auf sein Ei rieseln ließ. »So?«, fragte er. »Hast du Inna die Höhle gezeigt?«

      Jenke schüttelte den Kopf.

      »Das ist kein Ort zum Spielen.«

      »Wissen wir.«

      »Warum wart ihr dann dort?«

      »Waren wir nicht«, flüsterte er.

      »Wo ist Mama?«, fragte Inna.

      »Das wüsste ich auch gern.« Henri leerte seinen Orangensaft in einem Zug. Seine lauten Schlucke hallten durch den Speisesaal. »Ich habe dir die Höhle gezeigt, um dich zu warnen. Das Felsenmeer ist gefährlich.«

      »Weiß ich doch. Dürfen wir jetzt los? Wir gehen nur bis zum Rostbahnhof.« Jenke schob seinen Stuhl zurück. »Bitte!«, flehte er.

      Henri zeigte mit dem Löffel auf Inna. »Pass auf deinen Bruder auf.« Er biss in sein Brötchen.

      »Okay«, piepste Inna.

      »Zum Rostbahnhof.« Er schüttelte den Kopf, schob einen Löffel mit Ei in seinen vollen Mund. »Soso.«

      »Ich will zu Mama.« Inna hielt die Luft an und starrte auf ihren Teller. Tränen sammelten sich, tropften auf das Geschirr. »Kann ich zu ihr?«, fragte Inna kaum hörbar.

      »Wenn sie wieder da ist.« Henri strich sich über seinen Bart, einzelne Krümel rieselten auf den Tisch. »Wenn sie wieder da ist. Und wenn sie sich auf ihre Mutterrolle besinnt. Und wenn sie nicht betrunken ist.«

      Jenke sprang auf. »Können wir jetzt gehen?«

      »Setz dich wieder«, befahl Henri. »Ihr geht nirgendwohin, solange das Frühstück nicht beendet ist.«

      Sie saßen weitere Minuten still und mit gesenkten Köpfen am Tisch, während Henris laute Kaugeräusche den Knoten in Innas Magen weiter zuzogen.

      Plötzlich öffnete sich die Tür und Mama spazierte herein. Sie trug einen Minirock und ein bauchfreies Oberteil. »Guten Morgen!«, zwitscherte sie fröhlich. Sie warf ihre Schuhe auf den Boden und tapste zu ihrem Stuhl. »Kaffee?« Sie schaute sich um. »Wo ist Edchen? Warum habe ich keinen Kaffee? Und warum sehen alle so betroffen aus?«

      Inna beobachtete Henris angespannte Kaumuskeln und wagte nicht zu antworten.

      »Ist irgendetwas passiert?«, fragte Mama. »Ihr seht ja aus wie bei einer Beerdigung.«

      »Hattest du eine schöne Nacht?«, fragte Henri kalt.

      »Was soll ich sonst gehabt haben?« Mama nahm sich ein Croissant. »Ich habe mit meiner Agentin gesprochen. Sie hat ein neues Angebot für mich.«

      »So?«

      »Willst du nicht wissen, welches?«

      »Nein.« Henri räumte sein Geschirr zusammen.

      »Wo ist Beeke?«

      »Mit Ede auf dem Markt«, antwortete er. »Eine gute Mutter sollte das wissen.«

      Mama lachte spöttisch. »Und ihr? Was werdet ihr heute machen? Bei dem scheußlichen Wetter? Ich …«

      »Geh!«, unterbrach Henri sie. »Los, verschwinde!«

      »Ich darf doch …«

      Henri schlug mit der Faust auf den Tisch. »Darfst du nicht! Du führst mich vor, alle wissen es. Ich will, dass du verschwindest, ich will, dass du …«

      »Aufhören!« Jenke packte Innas Arm. »Komm!«, forderte er Inna auf und zog sie vom Stuhl.

      Sie rannten bis zu den Steinleichen. Kalt, grau, nass. Der Herbst zerrte an ihren Lungen. Inna stützte sich ab, schnappte nach Luft.

      »Mama, Mama, Mama«, winselte Jenke. Er holte sich einen Stock und schlug damit in tiefhängende Äste. »Du bist doch kein Baby mehr.«

      Inna schaute ihn feindselig an.

      »Ist doch so.« Er warf den Stock ins Gebüsch. »Komm jetzt. Wir haben keine Zeit mehr.«

      Sie liefen. Entlang der Steinriesen, an ihnen vorbei, sprangen über die Schienen und durchkletterten das Felsenmeer. Innas Hände waren rot vor Kälte, tausend Nadeln stachen in ihre Haut. Jenke war getrieben, wütend, sie konnte kaum mithalten. Irgendwann gelangten sie zu der engen Felsspalte, zwängten sich hindurch, auf den Felsvorsprung, mit Blick in die Schlucht, in die tiefe Schlucht.

      »Jemand war hier«, flüsterte Jenke.

      Inna folgte seinem Blick. Jenke starrte vor sich auf den Boden.

      Regungslos, ungläubig, enttäuscht.

      Unter ihnen verteilt lagen ausgedrückte Zigarettenstummel. Einige von ihnen so zerrieben, dass der Tabak in schwarzen Bröseln wie der Schweif einer Sternschnuppe auf dem Stein klebte.

      »Lass uns verschwinden«, bettelte Inna. »Ich will nicht hier sein. Was, wenn …«

      »Nein!« Jenke baute sich vor ihr auf. »Die Höhle gehört uns. Das Gold darin gehört uns! Wir müssen sie verteidigen. Gegen …« Er zeigte auf die Zigarettenstummel. »Gegen die hier.«

      Und dann hörten sie Stimmen. Dunkle Männerstimmen und ein Geräusch, das Inna nicht zuordnen konnte.

      »Bitte«, flüsterte Inna. »Jenke, ich …«

      »Okay, verschwinden wir!«, lenkte Jenke ein.

      Sie schoben sich durch die enge Felsspalte zurück, kletterten behände durch das Felsenmeer, Inna hörte Jenke keuchen. Die Felsen waren rutschig. Sie kamen durchnässt zurück. Graupel hatte ihnen die Sicht erschwert, sie hatten lange gebraucht. Sehr lange.

      »Wo wart ihr?«, fragte Henri.

      »Spielen.«

      »Wo, Junge?« Henri schaute ihn eindringlich an.

      »Wir waren am alten Rostbahnhof. Wie immer.«

      »Nicht weiter?«

      Beide schüttelten sie mit dem Kopf. »Zug gespielt. Und Restaurant.«

      »So?« Henri hob seine Augenbrauen. »Und das bei dem Wetter. Ihr müsst verrückt sein.«

      Edchen strich ihre Schürze glatt. »Kommt, Kinder«, sagte sie und nickte Richtung Tür. »Ihr holt euch noch eine Lungenentzündung.« Sie ließ ein Bad ein. In dem heißen Wasser ertränkte Inna ihre Angst.

      »Und dann?«, fragte Igor.

      »Und dann?« Inna schloss ihre Augen. »Und dann kam wenige Tage später der Nebel.«

      Igor räumte die Teller zusammen. Er stellte sie unsanft übereinander. »Der Nebel.«

      Inna nickte.

      »Und das heißt?«, fragte er ungeduldig.

      »Gar nichts.«

      »Gar nichts?«

      »Nein.«

      »Und die Höhle?«

      »Und die Höhle? Was ist das für eine Frage?«

      »Haben Sie sich hineingetraut? Waren Sie jemals wieder dort?«

      Inna schüttelte den Kopf. »Bis zu jenem Tag.«

      *

      Sie rannten, orientierungslos. Nebel drückte sich in ihre Lungen. Kalter, schwerer Nebel. Nebel, der alles verschluckte. Nur Mamas Gesichtsausdruck nicht. Den hatte nicht einmal der Sturm davongetragen.

      »Jenke!«, rief Inna. Sie versuchte, ihm zu folgen. Er war schnell, zu schnell. Sie hatte plötzlich Angst, dass er verschwinden würde. »Warte auf mich!«, schrie sie.

      Jenke nahm ihre Hand und zog sie. Zerrte sie über das vereiste Moos und die gefrorenen Gräser, über harte Zweige und große Steine.