Meinem Vater gelang es, sich der weiteren amerikanischen Kriegsgefangenschaft, während eines Gefangenentransportes, bei einem Halt im Bahnhof Bebra, durch Flucht zu entziehen. Auf verschlungenen Wegen kam er eines Nachts 1945 nach Hause. Unsere kleine Familie war wieder komplett, doch wir blieben noch weitere zwei Jahre im Haus der Fischers. Durch die Zerstörungen in den Städten, infolge alliierter Fliegerbomben, bestand große Wohnungsnot. Hinzu kamen noch die Heimatvertriebenen aus dem Osten. Infolgedessen war das verlassene Glebe´sche Haus, das unten an der Landstraße lag, von ausgebombten Familien aus dem Ruhrgebiet belegt. Als meine Eltern 1947 dahin zurückkehren wollten, hatten sie Mühe, wenigstens die untere Etage wieder für sich freizubekommen.
In diesem Herbst wurde ich schon 8 Jahre alt. Für mich war diese Rückkehr auf den kleinen Glebe’schen Hof sehr befremdlich, denn ich fühlte mich dem Dorf verbunden, dort fühlte ich mich zu Hause. Ich vermisste meinen Großvater. Das, was Kindheit ausmacht, hatte ich alles dort erlebt – dass dies nicht mein wirkliches Zuhause war, wusste ich bis dahin gar nicht. Ich konnte es auch nicht begreifen. Der Umzug war für mich schmerzlich.
In meinem Buch „Behütete Kindheit in dunkler Zeit“3 habe ich diese Kindheit in dem Dorf, das noch diesen Namen verdiente, ausführlich beschrieben. Hier möchte ich nur das erwähnen, was zu meinem Grundanliegen dieses Buches führt: Die Haltung von Tieren aller Art war auf einem Bauernhof mittlerer Größe in der damaligen Zeit selbstverständlich. Eine Idee von Optimierung, sowohl der Haltung als auch der Erträge, existierte noch nicht. Kaninchen, Hühner, Gänse, Schafe, Schweine, Rinder, Pferde – alles war bei uns vertreten. Die Pferde waren reine Arbeitspferde – schwere Kaltblüter. Im ganzen Dorf gab es zu der Zeit meiner frühen Kindheit nicht einen einzigen Traktor. Hühner und Gänse genossen stets völlig freien Auslauf auf allen Hofflächen und den angrenzenden, eingezäunten Weiden, auf denen auch die Schafe standen – wegen der Wolle waren die Schafe unentbehrlich. Die Kühe dienten der Milchwirtschaft, die monatlich einen festen Betrag einbrachte. Die nachwachsenden Kälber wurden meist verkauft, nur gelegentlich schlachteten wir eines für den Eigenbedarf. Die großen Kühe und Pferde wurden von uns nicht geschlachtet, sondern blieben für die Arbeit und die Zucht am Leben – alle anderen Tiere standen auf unserem Speiseplan.
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Der jüngste Bruder meines Vaters, Georg, kehrte kurz nach Kriegsende zurück. Aus Italien hatte er sich bis zu uns durchgeschlagen, ohne gefangen genommen zu werden. Mein Onkel Hans wurde erst 1948 aus französischer Gefangenschaft entlassen. Die bei uns lebenden Geflüchteten zogen nach und nach wieder in ihre Heimat, ins Ruhrgebiet, zurück, bis auf eine alleinstehende Frau, die bei uns blieb.
Letztlich saß eine stattliche Anzahl von Essern um unseren Bauerntisch, und dafür mussten eine Menge Lebensmittel herbeigeschafft werden. Glücklicherweise litten wir nie akute Not, im Gegensatz zu den vielen Menschen in den Städten – wo, wenn nicht auf einem gut bewirtschafteten Bauernhof, war genug Nahrung vorhanden! Aufgrund der allgemeinen, miserablen Versorgungsnotlage kamen jedoch regelmäßig staatlich bevollmächtigte Kontrolleure auf den Hof und beschlagnahmten einen Teil unserer Vorräte. Noch heute habe ich Begebenheiten in Erinnerung, bei denen es die Bauern geschafft hatten, der Kontrolle geschickt zu entgehen. Wir litten also nicht Hunger.
Was den Fleischverzehr betraf: Braten gab es meist nur sonntags, während an den Wochentagen meist Suppe gekocht wurde. Die Suppen enthielten stets einen Anteil Fleisch oder ein ordentliches Stück Wurst – ohne tierisches Fett waren Suppen gar nicht denkbar. Auch zum morgendlichen Frühstück und auf jeden Fall zum Abendessen gehörte fast immer Wurst dazu. Kaninchen, Hühner und Gänse wurden nach Bedarf ganzjährig geschlachtet, Schweine nur immer Winter – meist zwei, die übrigen wurden verkauft.
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Im Winter, wenn in der Natur Ruhe eingekehrt war, zog sich die Arbeit in die Ställe und Höfe zurück. Es wurde alles etwas beschaulicher. Mein Großvater beispielsweise betätigte sich in der kalten Jahreszeit als Hausmetzger im Dorf. Ich habe ihn nie gefragt, wo er das gelernt hatte, doch er besaß alle notwendigen Gerätschaften dafür. Selbstverständlich erledigte er auch unsere eigenen Schlachtungen, inklusive der Weiterverarbeitung des Fleisches.
Soweit ich zurückdenken kann, war es für mich selbstverständlich, dass er über den Winter bei vielen im Dorf diese Arbeiten erledigte. Vor meiner Schulzeit ging ich jeweils am späten Vormittag zum Hof einer Schlachtung, um auf keinen Fall das Mittagsmahl zu verpassen – wo mein Großvater war, wurde ich selbstverständlich nicht fortgeschickt. Diese Schlachttage waren für mich immer Festtage. Die frischen Frikadellen waren eine Delikatesse – nie wieder in meinem späteren Leben haben sie so geschmeckt wie in meiner Kindheit. Fragte mich einmal jemand nach meiner Leibspeise, so war meine Antwort ohne zu zögern: „Was Opa macht!“ Wurde bei uns zu Hause geschlachtet, halfen Verwandte aus dem Nachbarort mit, denn es war harte Arbeit. Zum Abendessen kam noch die Nachbarschaft hinzu, und es wurde alles aufgetischt. Dann konnte es richtig spät werden, bis die Letzten gingen.
Diese Festmahle waren kaum zu überbieten, und von Not war für mich nichts zu spüren. Auch wenn das Schicksal in manchen Häusern unerbittlich zugeschlagen hatte und die Nachricht kam, der Sohn oder der Ehemann würde nicht mehr zurückkehren – „auf dem Felde der Ehre …“, zu wessen Ehre? – wusste ich, als kleines Kind, nichts von dieser Art Not.
Ich erinnere mich noch gut an die erste von mir bewusst miterlebte Tötung eines Schweins: An diesem Tag stand ich früh auf, um dabei zu sein. Man hatte mir am Abend vorher gesagt, ich sollte das Schwein am Ringelschwanz festhalten, und ich hatte es als eine mir zugewiesene, notwendige Aufgabe angesehen und rechtzeitig geweckt werden wollen. Man würde schon beginnen, kaum dass es hell genug wäre. Alles spielte sich auf unserem Hinterhof ab, zwischen dem Wohnhaus und den Wirtschaftsgebäuden. Ein Bolzenschussgerät zum Betäuben der Tiere besaß mein Großvater damals noch nicht, daher erfolgte das Betäuben durch einen wuchtigen Schlag gegen den Tierschädel mit dem Rücken einer schweren Axt. Ich hielt das Schwein fest am Schwanz, der mächtige Schlag saß, und das Tier fiel betäubt um. Jetzt wurde es „abgestochen“, wie Metzger es nannten, das hieß, die Halsschlagader wurde durchtrennt und das Tier blutete aus. Danach erfolgte das Abbrühen und Entfernen der Borsten, anschließend die Entnahme der Eingeweide.
Wir alle aßen Fleisch und Wurst – eine Selbstverständlichkeit, die von niemandem infrage gestellt wurde, von mir schon gar nicht. Keiner von uns hatte je von der Möglichkeit einer anderen Ernährungsweise gehört. Für mein damaliges, kindliches Verständnis kam der Umstand verstärkend hinzu, dass mein Großvater die entscheidende, prägende männliche Bezugsperson meiner ersten Lebensjahre war – vermutlich auch dann noch, als mein Vater schon heimgekehrt war. Alles, was mein Großvater tat, war aus meiner Sicht gut, richtig und notwendig. Dass dieser Mann auch Tiere schlachtete, damit wir Fleisch und Wurst hatten, war in meinem Empfinden ein ganz und gar natürlicher Vorgang. Forsche ich heute in meiner Erinnerung, beispielsweise an die eben beschriebene Tötung des Schweins, kann ich nicht feststellen, dass das Erlebnis mich innerlich bewegt oder meine Abscheu erregt hätte. Das Tier war ja schließlich zu diesem alleinigen Zweck, uns als Nahrung zu dienen, gemästet worden. Ich sah es als den Lebenszweck und die Bestimmung des Tieres an. Und der Mensch, der es tötete, besaß mein unerschütterliches Vertrauen.
3 tao.de 2017
Die Mensch-Tier-Beziehung
So, wie die Masttiere auf den Höfen in der damaligen Zeit gehalten wurden, waren sie von uns Menschen abgeschirmt. Sie lebten überwiegend in Ställen und wurden dreimal täglich gefüttert – mit der alleinigen Zweckbestimmung der Nahrungsmittelerzeugung. Tiere wurden zu reinen Produkten degradiert, und überdies entstand keinerlei Beziehung zwischen Menschen und Tieren.
Ganz anders empfand ich es dagegen, ein Tier als Gefährten zu haben, wie unseren Hofhund Bello. Er lebte ganz selbstverständlich mit uns zusammen im Haus, ich wuchs sozusagen zusammen mit ihm auf. Wie meine Mutter