Der Hammermord am Hansering. Bernd Kaufholz. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Bernd Kaufholz
Издательство: Автор
Серия:
Жанр произведения: Юриспруденция, право
Год издания: 0
isbn: 9783963115196
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„Er war ein regelrechtes Nervenbündel. Ich bekam richtig Angst vor ihm. Mir kam es so vor, als habe er ein schlechtes Gewissen.“

      Die Kripo stellt sogenannte Leumundsermittlungen zur Person Kramers an. Dabei werden Personen aus dem Umfeld des Rentners befragt. Eine Frau aus Kleinkühnau berichtet, dass Kramer bekannt dafür ist, dass er „viel klaut, besonders Futter vom Feld“. Die 60-Jährige klärt auch auf, warum er nicht mehr im Anglerverein ist: „Während einer Sitzung des Vereins im Café Föse vermisste jemand sein Portemonnaie. Alle wurden aufgefordert, den Gastraum nicht zu verlassen. Kramer wollte nur schnell aufs Klo. Bei der Durchsuchung wurde die Geldbörse in seiner Unterhose entdeckt.“

      Ein weitläufiger Verwandter glaubt den Grund dafür zu kennen, warum der Rentner so menschenscheu ist: „Er hat im Krieg bei der Reichsbahn gearbeitet. Als das Bahngelände bombardiert wurde, wurde ein Eisenbahner getötet. Kramer stand in unmittelbarer Nähe und wurde danach in die Heilanstalt Bernburg zur Beobachtung eingeliefert.“ Kramer selbst sagt später dazu, dass er 1941 einen Bombensplitter in den Rücken bekommen habe.

      Die Ermittler wollen auch wissen, ob Kramer einen Hang zu kleinen Mädchen hat. Doch über solche Neigungen weiß niemand Bescheid.

      22Jedoch scheint allgemein bekannt zu sein, dass der Invalidenrentner ein „Spanner“ ist. Schon seit Jahren habe er Liebespärchen an den Elbwiesen verfolgt und sie aus der Deckung heraus beim Geschlechtsverkehr beobachtet, sagen gleich mehrere der Befragten aus. Als Kramer mit diesen Aussagen konfrontiert wird, sagt er, dass er „in erster Linie zum Futtersuchen“ fährt. „Nur gelegentlich“, wenn er „unmittelbar auf ein Pärchen stoße“, sehe er ihm „gern beim Verkehr zu“. Als seine Frau noch gelebt habe, sei er danach immer schnell nach Hause gefahren, um mit ihr ins Bett zu gehen. Seit ihrem Tode im Februar 1959 habe er sich nach solchen Beobachtungen selbstbefriedigt. Später räumt er ein, seit „20, 25 Jahren zu spannen“. Begonnen habe diese Obsession, als er noch bei der Bahn gearbeitet habe.

      Josef Woitech* aus Kleinkühnau schildert in drastischen Worten die sexuelle Vorliebe Kramers. „Er war besonders in diesem Jahr sehr aktiv dabei, Liebespaaren hinterherzufahren. Wenn er solch ein Pärchen sah, war er wie ein Irrer. Von einer Frau aus Kühnau habe ich gehört, dass er früher sogar unter die Bänke gekrochen ist, auf denen sich Liebespaare vergnügten.“ Kramer verbinde die Suche nach Viehfutter immer mit seiner Jagd nach Paaren, die es miteinander treiben, so der 35-Jährige.

      Dass Kramer einmal pro Woche eine 61 Jahre alte Bekannte besucht, erfahren die Ermittler bei der Befragung von Personen, die den Rentner näher kennen. Anuschka Koczinsky* räumt dann auch ein, dass Kramer, den sie seit 1946 kenne, mit ihr „einmal die Woche geschlechtlich verkehrt“. Sie bekomme jedes Mal fünf Mark dafür. Auch am 23. September habe Kramer gegen 7.30 Uhr vor ihrer Tür gestanden und sein „Nümmerchen“ eingefordert. „Er hat mich nach dem Tod seiner Frau gefragt, ob wir heiraten wollen, aber das habe ich abgelehnt.“

      Leutnant Köhler wird bei seiner Befragung deutlich: „Sie kennen ja seinen Geschlechtstrieb. Meinen Sie, dass Herr Kramer am Nachmittag erneut sexuelles Verlangen gehabt hat, nachdem sie morgens zusammen gewesen sind?“

      Koczinsky winkt ab: „Der ist zwar ein alter Bock, aber der brauchte immer ein paar Tage zum Ausruhen, bis er wieder zu 23mir kam. Wenn er einen starken Geschlechtstrieb hätte, hätte er mich öfter in der Woche besucht.“

      Als wichtiger Zeuge hat sich innerhalb des Befragungsmarathons der 66 Jahre alte Otto Lutz herauskristallisiert. „Was der Mann erzählt hat, passt genau zu den Beobachtungen anderer Zeugen am Nachmittag des 23. September“, stellt der Chef der Morduntersuchungskommission bei einer Lagebesprechung fest. „Nur die Darstellungen unseres speziellen Freundes Kramer stimmen damit hinten und vorne nicht überein. Einer der beiden sagt nicht die Wahrheit. Ich glaube, dass Kramer derjenige ist. Wir holen Lutz noch mal ins VPKA zur Nachvernehmung – speziell zur Person Kramers.“

      Am 30. Oktober steht Lutz eine Stunde lang Rede und Antwort. Und das Protokoll vermerkt, dass er den Tag, an dem Christel verschwand, genauso schilderte wie zuvor. Es seien keine Widersprüche festzustellen. Der Befragte habe „weder einen unsicheren noch betont sicheren Eindruck gemacht“.

      Besonders wichtig ist, dass Lutz es für ausgeschlossen hält, dass Kramer, den er unterwegs getroffen hatte, den Weg genommen hat, den dieser der Kripo geschildert hatte. „Er kann nicht den schmalen Pfad entlanggekommen sein, der von der Schleusenbrücke schräg über die Wiesen in Richtung Pappelallee zum Hauptweg führt. Als ich ihn hinter mir fahren sah, war er an einer Stelle, die auf den nach Kühnau führenden Hauptweg führt, fast rechtwinklig zur Schleusenbrücke.“

      Lutz wird mit einem Funkstreifenwagen an den bezeichneten Ort gebracht. Der Zeuge ist sich völlig sicher: „Hier war das. Irrtum ausgeschlossen!“

      Um ganz sicherzugehen, fahren einige Kriminalisten mit Lutz drei Tage später erneut die Strecke ab, die der Rentner am 23. September gefahren war. Er weicht keinen Zentimeter von seinen Aussagen zuvor ab.

      Am 2. November wird aufgrund der Widersprüche, die sich aus den Schilderungen seines Weges ergeben, ein Ermittlungsverfahren gegen den 63-Jährigen eröffnet: „Kramer wird beschuldigt, 24am 23. September 1959 in dem Naturschutzgebiet bei Großkühnau die Schülerin Christel Kohnert getötet zu haben.“ Der Chef des Polizeikreisamts Dessau, Major Steinke, fügt hinzu: „Kramer befand sich zur fraglichen Zeit in dem Naturschutzgebiet in der Nähe des Tatorts. Seine Angaben über seinen Aufenthalt sind widersprüchlich und decken sich nicht mit den Aussagen von Zeugen. Da der Zeuge Lutz den Kramer aus Richtung Elbe kommen sah, obwohl Kramer behauptet, an der Schleuse gewesen zu sein, besteht der dringende Verdacht, dass Kramer mit der Tat in Zusammenhang steht.“

      Bei der ersten Vernehmung Kramers als Tatverdächtiger thematisiert Oberleutnant Wolter auch die Sache mit den beiden Sowjetsoldaten, die angeblich eine Uhr verkaufen wollten. „Bei Ihrer Vernehmung am 24. September haben Sie davon kein Wort gesagt. Im Gegenteil, Sie unterschrieben im Aussageprotokoll, dass Sie von zu Hause bis zur Stelle, wo Sie Futter geholt haben, keinem Menschen begegnet sind. Wie kommt das?“

      Er habe nicht gewusst, so der ehemalige Reichsbahner, dass er die sowjetischen Soldaten angeben darf. „Ich dachte, dass ich nur deutsche Personen angeben soll.“ Erst als er das seiner Tochter erzählt und die ihm geraten habe, das zu erwähnen, habe er es getan.

      Doch Wolter widerspricht sofort: „Von allen Menschen, die sich am 23. September dort aufgehalten haben, hat niemand uniformierte Personen gesehen.“ Kramer streitet sowohl ab, Christel gesehen zu haben, als auch den Weg genommen zu haben, den der Zeuge Lutz beschrieben hat.

      Am 3. November um 2 Uhr wird der Witwer ins Dessauer Untersuchungsgefängnis gebracht. Die Strafkammer des Kreisgerichts erlässt umgehend einen Haftbefehl.

      Selbst als Kramer am 5. November dem Hauptbelastungszeugen Lutz gegenübergestellt wird, bleibt er bei seiner Aussage: „Die Angaben des Zeugen können nicht stimmen“, meint er.

      Kramer wird zehnmal als Beschuldigter vernommen. Das letzte Mal am 12. Januar 1960. Stück für Stück rückt er mit der 25Wahrheit heraus. Meistens kommt es nach seinen Aussagen zur Gegenüberstellung mit Zeugen, die die Lügengebäude des Kindermörders immer wieder zum Einsturz bringen. Erst nachdem Kramer am 7. Januar 1960 den Ermittlern bei einem Ortstermin die Tat detailgetreu „nachgespielt“ hat und am Ende weinend zusammenbricht, sind sich die Dessauer Kriminalisten sicher, dass er die Wahrheit gesagt hat …

      … Am 23. September 1959 steht Friedrich Kramer gegen 5.30 Uhr auf. Nachdem er sein Vieh versorgt hat, fährt er kurz vor 7 Uhr nach Dessau, um dort Ziegenmilch abzuliefern. Zuvor besucht er Anuschka Koczinsky und „gebraucht“ sie, wie er sich später beim Verhör ausdrückt. „Wenn ich zu ihr gekommen bin, wusste sie, was ich will. Die Sache hat nur fünf Minuten gedauert.“

      Nachdem er gegen 9 Uhr zurück in Kühnau ist, kümmert er sich um den Haushalt. Seine Tochter teilt ihm mit, dass er am Mittag aus Dessau Futter abholen soll. Gegen 13.30 Uhr ist er wieder zu Hause.

      Nach dem Mittagessen entschließt sich Kramer, Futter für seine Ziegen zu holen. Er fährt zur Lache