»Jetzt fang du doch nicht auch noch an«, maulte Wiebke. »Bei mir setzt nun mal nichts an, da kann ich essen, so viel ich will. Kenne viele, die mich darum beneiden. Aber zu dürr bin ich doch nicht, oder?« Sie visierte Stephanie aus zusammengekniffenen Äuglein an: »Oder wie? Hä? Hä?!«
»Nein, natürlich nicht. Du bist nur ganz toll schlank«, bestätigte Stephanie friedfertig und wie gewünscht.
»He, du hast eine Sekunde zu lange gezögert. Das hab ich genau gemerkt. Also findest du mich doch zu dürr, ja? Gib’s nur zu, lügen ist zwecklos. Dürr und hässlich. Sag doch gleich, dass ich nie einen Kerl abkriege! Dann kann ich ja auch ins Wasser gehen. Oder mich vor den nächsten Zug werfen.«
Ihr Gesicht verzog sich zu einer faltigen Leidensmiene, die Mundwinkel sanken tief herab, und die hochgewölbte Unterlippe pendelte im Luftzug ihrer hechelnden Atemzüge vor und zurück. Etwa drei Sekunden lang, dann prustete Wiebke los.
Auch Stephanie wieherte. »Selbstmord wegen Untergewicht! Ausgerechnet Hilke! So was Bescheuertes, da können auch nur Lehrer drauf kommen. Etwas Angesagteres als mager zu sein gibt es doch gar nicht.«
»Außerdem haben die hier überhaupt keine richtigen Züge. Nur die Inselbahn.«
»Und die ist so langsam, da kannste dich nicht davor werfen. Höchstens wegschmeißen!«
Der italienische Ober erschien und lächelte milde auf die beiden giggelnden Teenager herab. Wiebke entschied sich nach einigem weiteren Zieren doch für einen Bananensplit; Stephanie bestellte, wohl unter dem Eindruck ihrer eigenen kalorienbezogenen Worte, nur einen Milchkaffee.
Dann fragte sie, nun wieder ganz ernst: »Aber was ist denn nun wirklich mit Hilke Smit? Hast du vielleicht ’ne Ahnung, wo sie stecken könnte?«
Wiebke zuckte die schmalen Schultern. »Wer weiß. Sie wollte doch so gerne ins Watt, weißt du nicht mehr? Eine Wattwanderung machen, nur mal eben ein paar Kilometer raus, hat sie gesagt. Das war noch auf der Fähre, du weißt doch, Langeoog III, das Ding, das so elegant aussieht wie ein zertretener Schuhkarton. Ich erinnere mich genau. So ein Ausflug ins Watt soll ja nicht ungefährlich sein, wenn man sich nicht auskennt, wegen der Flut, die kommt nämlich schneller als man denkt, und weil man die Entfernungen so schlecht abschätzen kann. Außerdem gibt es da diese Dinger, in denen man ersaufen kann, wie heißen die noch? Spülies?«
»Priele«, korrigierte Stephanie. Wieder prusteten beide gleichzeitig los.
Der Ober trat an ihren Tisch und servierte das Bestellte, lächelte nachsichtig über die sich immer noch kringelnde Wiebke, während sein Blick deutlich länger und auch wohlgefälliger auf Stephanies aparter Erscheinung ruhte. Das hellhäutige Mädchen errötete schlagartig, als habe ihr jemand mit Schwung einen Eimer Farbe ins Gesicht gekippt.
Kaum hatte sich der Kellner entfernt, beugte sich Wiebke so weit nach vorn, wie es die Sonnenschirmchen in ihrer Eisschale zuließen, und zischelte: »Hast du das gesehen? Der Typ ist scharf auf dich! Scharf wie ’ne Rasierklinge. Halt dich bloß ran, bei dem hast du echte Chancen.«
»Blödsinn.« Stephanie blinzelte schamhaft in ihren Kaffee, während ihre erhitzte Gesichtshaut tiefrot zu leuchten begann.
»Ich meine ja nur«, sagte Wiebke achselzuckend und schob sich einen gehäuften Löffel Eis mit Fruchtfleisch und Sahne in den Mund. »Was das sparen würde! So oft wie wir hier sitzen. Wäre doch nicht zu verachten.«
Wieder lachten beide gleichzeitig los, und hätte sich Wiebke nicht gerade noch rechtzeitig die Hand vor den Mund gehalten, wäre das für Stephanies paillettenbesticktes gelbes T-Shirt das vorläufige Ende gewesen.
»Was hältst du eigentlich von dieser Geschichte mit dem Triebtäter, der hier angeblich unterwegs sein soll?«, fragte Stephanie dann unvermittelt ernst. »Meinst du, da ist etwas dran?«
Wiebke nickte. »Gehört habe ich auch davon. Wieso, gibt es da einen Zusammenhang? Ich dachte, das ist so einer, der sein Ding kleinen Kindern und alten Weibern zeigt. Mir zeigt ja nie einer so was. Solche Typen sollen doch ganz harmlos sein, ich meine, die vergewaltigen niemanden und bringen keinen um. Eigentlich ganz arme Willis.« Wieder begann sie zu grinsen: »Ha, genau, armer Willy! Wird immer nur vorgezeigt.«
Diesmal jedoch ließ sich Stephanie von Wiebkes Albernheit nicht anstecken. »Ja, genauso habe ich es auch gehört. Aber eben das macht mich ja so stutzig.«
Wiebke hielt in dem Versuch, den Boden aus ihrer Eisschale herauszuschaben, inne: »Wieso?«
»Na, weil das so betont wird! Dass das Auftauchen dieses Kerls absolut nichts mit dem Verschwinden von Hilke zu tun haben soll.« Sie fuhr sich mit beiden Händen durch ihre blonden Haarkaskaden. Zwei Tische weiter klirrten Flaschen; offenbar war der Kellner nicht ganz bei der Sache. Die beiden Mädchen achteten nicht darauf.
»Wer hat das betont?«, hakte Wiebke nach.
»Na, die Taudien! Als sie uns heute Mittag aufgefordert hat, die Augen offen zu halten und darauf zu achten, ob wir irgendwo Hilke sehen oder irgendetwas, das darauf hindeutet, wo sie sein könnte. Weißt du nicht mehr?«
»Da muss ich wohl geistig nicht so ganz präsent gewesen sein«, sagte Wiebke. »Außerdem, so viel wie die Frau redet, wenn der Tag lang ist, wer will denn das alles wissen? Frag mich doch mal.«
Stephanie ließ sich nicht beirren. »Da hat sie doch auch von diesem Typen gesprochen. So ’n dicker Kerl, ganz alt schon, der sich am Strand vor einem Kind ausgezogen hat. Wir sollen doch auch aufpassen, ob wir so einen irgendwo sehen. Und dann hat die Taudien extra dreimal betont, dass die beiden Sachen nun aber auch überhaupt nichts miteinander zu tun haben. Auffällig, oder?«
»Weiß nicht.« Wiebke warf den Löffel auf den Tisch und verschränkte die Finger unter ihrem spitz zulaufenden Kinn. »Ich meine, sich am Strand ausziehen, wer tut das denn nicht? Wenn man da gleich jeden verhaften wollte …«
»Eben!« Wie beschwörend streckte Stephanie beide Handflächen vor. »Darum glaube ich ja auch, dass da ganz etwas anderes dahinter steckt. Dieser Kerl ist bestimmt nicht bloß so ein Exi, wie heißt das noch, Expoinquisitor oder was. Und der hat bestimmt etwas ganz anderes auf dem Kerbholz als nur Hose runterlassen. Das wollen die uns nur nicht sagen, damit es keine Panik gibt.« Sie senkte ihre Stimme zu einem Raunen, das auf der anderen Seite des Tisches gerade noch zu vernehmen war: »Dabei sollen sogar schon Blutspuren gefunden worden sein!«
»Aber dann …« Wiebke runzelte die Stirn. »Dann könnte es ja sein, dass Hilke tatsächlich … Ich meine, dass es ein Verbrechen …« Trotz mehrerer Anläufe brachte sie das Wort nicht über die Lippen. All ihre Kaltschnäuzigkeit schien sie von einem Augenblick auf den anderen verlassen zu haben.
»Dass sie umgebracht wurde.« Stephanie schien diesen Gedanken schon länger zu wälzen und brachte ihn glatt heraus. »Hilke Smit tot! Kannst du dir das vorstellen?«
»Oh Gott.« Wiebke klang ehrlich erschüttert. »Und dieser Kerl läuft hier immer noch rum, alle halten ihn bloß für einen Exhibitionisten, und keiner sagt unsereinem, wie gefährlich der wirklich ist! Das ist ja …«
»Unverantwortlich. Genau.« Stephanie nickte nachdrücklich. »Wenn der Typ eine wie Hilke umgebracht hat, dann sucht der sich doch wahrscheinlich in diesem Moment schon ein neues Opfer. Jede von uns kann als Nächste dran sein. Und keiner warnt uns vor der Gefahr, in der wir schweben. Die lassen uns doch glatt mit offenen Augen dem Täter in die Arme laufen! Unmöglich, so was.«
»Aber jetzt wissen wir ja Bescheid«, sagte Wiebke und winkte dem Ober. »Jetzt können wir es ja übernehmen, alle zu warnen. Das ist schließlich nichts anderes als unsere verdammte Pflicht.«
»Genau. Lieber spät als nie.«
Während der Kellner umständlich nach dem Wechselgeld kramte, sagte Wiebke: »Mal gespannt, wer jetzt Hilkes Platz im Sopran kriegt. Das wird nun ja noch mal richtig eng.«
»Also hör mal! Noch wissen