Noch konkreter wird die Umwelt- und Menschenrechtsaktivistin Carola Rackete, als sie eine Regierung fordert, die «auf allen Ebenen viel mehr Demokratie zulässt. Wir brauchen echte Demokratie in der Wirtschaft, in der Politik und in der Gesellschaft.»[18] Gleichzeitig müssten wir aber ebenfalls «den Überkonsum beenden und der globalen Ungerechtigkeit und dem Verfall der Menschenrechte etwas entgegensetzen», verlangt sie. So wie sie im Juni 2019 als Kapitänin der Sea-Watch 3 nicht ewig warten konnte, bis sie die geflüchteten Menschen an Bord in Italien in Sicherheit brachte, so könne auch die Menschheit nicht darauf warten, «dass sich die Staaten selbst verpflichten.»[19]
Carola Rackete will mehr Demokratie, viel mehr Demokratie. Zu Recht. Obwohl nach dem Ende der Sowjetunion Ende der 1980er-Jahre von den Siegern des Kalten Krieges ein neues Zeitalter der Demokratie ausgerufen wurde, hat der Begriff im 21. Jahrhundert für viele Menschen den guten Ruf verloren. Zu viele wurden enttäuscht. Zu viele Zivilist*innen und Soldat*innen starben im Namen der «Demokratie» auf den Schlachtfeldern des Mittleren Ostens. Zu viele Menschen wurden in den demokratischen Staaten der EU oder in den USA wirtschaftlich abgehängt, damit deren Regierungen die Reichen noch reicher machen konnten.
Es ist insofern keine grosse Überraschung, dass Wendy Brown, Professorin für politische Theorie an der Universität Berkeley, konstatiert: «Die Demokratie, die wir einst hatten, ist tot.» Weil die Neoliberalen die Demokratie als störend empfinden, sollte sie «auf ein Kreuzchen auf einem Wahlzettel» reduziert werden, schimpft sie. Doch die linke amerikanische Intellektuelle belässt es nicht dabei, sich zu beklagen. Obwohl die Demokratie in einer globalisierten Welt nicht mehr wie früher funktionieren könne, sei das auf einer lokalen oder regionalen Ebene noch möglich. Gefragt, ob die direkte Demokratie der Schweiz «ein Rezept für die Welt» wäre, setzt die Aktivistin für Frauenrechte zu einem Loblied an: «Das wäre phänomenal», sagt sie. Die Schweiz habe eine direkte Demokratie, die «an öffentliche Interessen und das Gemeinwohl glaubt. Eine Demokratie, die die Debatten öffentlich austrägt.» Dass die Ergebnisse der Abstimmungen nicht alle glücklich machten, sei halt Demokratie. «Ja, die Welt wäre in einem guten Zustand, wenn sie verschweizern würde», sagt Wendy Brown.[20]
Damit nimmt die kalifornische Professorin den Begriff von Friedrich Dürrenmatt auf. Wendy Browns Votum wird in progressiven Kreisen in der Eidgenossenschaft nicht besonders geschätzt, leidet doch die Linke in diesem kleinen, reichen Land daran, praktisch immer in der Minderheit zu sein. Während sich Schweizer Grossbanken und multinationale Konzerne, die aus Steuergründen ihren Sitz in der Schweiz haben, mit der Unterstützung des Bürgertums am Elend der Welt bereichern.
Denn die Schweiz hat nicht nur ein ausgeklügeltes politisches System, das der erwachsenen Bevölkerung mit Schweizer Pass weitgehende Mitsprachemöglichkeiten einräumt. Die Schweiz ist auch ein Land, das von der weltweiten Ausbeutung profitiert. Natürlich ist sie damit nicht allein. Sie profitiert im Verbund mit den anderen Staaten des globalen Nordens, die der Welt die Handelsbedingungen diktieren. Der ehemalige Berner SP-Nationalrat Rudolf Strahm beschreibt die Verhältnisse so: «Die in den internationalen Handelsabkommen und der WTO (Word Trade Organization) festgeschriebene Freihandelsdoktrin hat stets soziale Fragen ignoriert, etwa Kinderarbeit und Lohndumping. Ökologische Kritik wurde beiseitegeschoben, etwa Überfischung, Gentechnologie, Klima- und Atmosphärenschutz. Der doktrinär durchgesetzte Freihandel ist sozial und ökologisch blind.»[21]
So ist es nicht verwunderlich, dass auch die sozialdemokratische Zürcher Nationalrätin Jacqueline Badran dafür kämpft, das herrschende Wirtschaftssystem «zu einer postkapitalistischen Gesellschaft, die nicht mehr den Wachstumszwang unterworfen ist», umzubauen. «Nur weil wir die Ausbeutung nicht mehr vor der eigenen Haustür haben, ist sie nicht verschwunden – wir haben sie einfach ins Ausland ausgelagert», analysiert die oppositionelle Unternehmerin. Deshalb «müssen wir jetzt die Köpfe zusammenstecken – und eine neue Geschichte entwickeln, welche die globalen Probleme angeht.»[22] Ganz ähnlich sieht das Strahm: «Die sozialen und ökologischen Schutzregeln, die in den zivilisierten westlichen Nationen über hundert Jahre hinweg schrittweise installiert worden sind, braucht es auf globaler Ebene.»[23]
Doch damit wäre es nicht getan: Es reicht nicht, bloss ökologische und arbeitsrechtliche Regeln erfolgreicher Staaten wie jene der Schweiz global umzusetzen. Unabhängig davon, dass die Gewerkschaften zu Recht darauf hinweisen, dass es etwa beim Kündigungsschutz oder bei der fehlenden Demokratie auf Betriebsebene in der Schweiz noch grosse Defizite gibt. Angesichts der sich weiter verschärfenden Klimakrise braucht es einen fundamentalen Umbau des herrschenden Wirtschaftssystems. Darauf weisen auch die jugendlichen Klima-Aktivist*innen immer wieder hin, wenn sie den «system change» fordern.
In progressiven Kreisen der USA, und seit Beginn des Jahres 2020 auch in der Kommission der Europäischen Union, ist viel von einem grünen New Deal die Rede, mit dem der Umbau der Wirtschaft vorangetrieben werden sollte, um das Leben in den reichsten Ländern der Welt CO2-neutral zu organisieren. Für viele kritische Wirtschaftsfachleute oder Aktivist*innen gehen diese Pläne allerdings zu wenig weit. Abgesehen davon, dass sie bloss auf dem Papier existieren.
Für Niko Paech beispielsweise braucht es einen Aufstand und «Gruppen von Menschen, die eine Lebensweise praktizieren, die übertragbar ist auf 7,5 Milliarden Menschen.» Für den Professor für Plurale Ökonomik an der Universität Siegen ist der von der EU-Kommission angekündigte Green Deal und der New Green Deal, wie ihn die amerikanischen Demokrat*innen propagieren, «eine Mogelpackung, die das Unmögliche verspricht: keine Wohlstandsreduktion bei gleichzeitig hinreichendem Umweltschutz.» Bestandteile einer ökologisch vertretbaren Wirtschaft sieht er etwa im Verbot «aller Urlaubsflüge, Kreuzfahrten und anderem schamlosen Luxus». Und in der Einführung einer 20-Stunden-Arbeitswoche, «um bei halbierter Produktion dennoch Vollbeschäftigung zu erreichen».[24]
Paech nennt sein Wirtschaftsmodell «Postwachstumsökonomie». Er argumentiert, dass man Wertschöpfung nicht von ökologischen Schäden entkoppeln dürfe und dass ab einem gewissen wirtschaftlichen Entwicklungsniveau «mehr Einkommen und Konsum nicht zu mehr Lebenszufriedenheit» führe. Ständiges Wachstum führe sogar zu kontraproduktiven sozialen Effekten in Bezug auf Hunger, Armut oder Verteilungsgerechtigkeit. Paech bleibt allerdings die Antwort auf die Frage schuldig, wie sich der globale Süden auf diese Weise wirtschaftlich so entwickeln könnte, dass die Menschen auch dort über genügend sauberes Wasser und gesunde Nahrung verfügen und nicht weiterhin auf ausreichende Bildung, vernünftige Transportmöglichkeiten oder eine anständige Gesundheitsversorgung verzichten müssen.[25]
Da ist sein amerikanischer Kollege Jeremy Rifkin optimistischer. In seinem Buch «The Green New Deal»[26] kommt der Ökonom und Publizist zum Schluss: «Es gibt Zeiten in der Geschichte, die zum Zusammenbruch einer Zivilisation führen, weil neue Revolutionen in den Bereichen Kommunikation, Energie, Mobilität und Logistiktechnologie nicht in Sicht sind. Glücklicherweise treibt diesmal eine neue, leistungsstarke grüne Infrastruktur-Revolution die alte Infrastruktur beiseite und schafft gleichzeitig die Möglichkeit, auf der Erde einfacher und nachhaltiger zu leben.»[27]
Für Rifkin ist der Green New Deal, wie ihn auch die US-amerikanische demokratische Kongressabgeordnete Alexandria Ocasio-Cortez fordert, «ein starkes Plädoyer für die jüngeren Generationen». Denn diese sei es, die Amerika umzuwälzen werde, um mit einer wichtigeren Agenda voranzukommen: «Nicht nur um die sozialen Perspektiven und das wirtschaftliche Wohlergehen aller Amerikaner*innen zu verbessern, sondern auch, um Amerika und seine Bevölkerung als Vorreiter zu positionieren, den Klimawandel zu begrenzen und das Leben auf der Erde zu retten.» Für Rifkin ist deshalb der Aufbau einer emissionsfreien Infrastruktur für die dritte