Für den «Global Risk Report» wurden rund 750 Personen befragt, darunter auch sogenannte «Global Shapers», Menschen ab Jahrgang 1980. Diese sorgen sich noch stärker um die Umwelt. Sie sehen im Klimawandel nicht nur langfristige Risiken, sondern gehen vielmehr davon aus, dass bereits ab 2020 Umweltkatastrophen wie extreme Hitzewellen oder unkontrollierbare Waldbrände ansteigen werden.[9] Angesichts der massiven Brände im Amazonasgebiet und in Australien im Jahr 2019 ist das keine allzu gewagte Prognose.
Zu diesen Erkenntnissen passte, dass sich kurz vor dem WEF auch der Schweizer Tennisspieler Roger Federer aus der Deckung wagte und zum Klimanotstand ein klares Statement abgab. Federer war von der Klimajugend mit dem Hashtag #rogerwakeupnow aufgefordert worden, sich gegen die Politik einer seiner wichtigsten Sponsoren auszusprechen.
Ende November 2018 hatten zwölf Aktivist*innen auf die umweltschädliche Investitionspolitik der Schweizer Grossbank Credit Suisse (CS) aufmerksam gemacht, als sie in Vorraum einer Bankfiliale als Sportler verkleidet Tennis spielten. Für diese Aktion des zivilen Ungehorsams wurden sie von der Staatsanwaltschaft wegen Hausfriedensbruchs angeklagt, Mitte Januar 2020 in erster Instanz von einem Bezirksrichter aber überraschend freigesprochen. Der bürgerliche Einzelrichter attestierte den Demonstrierenden, angesichts eines realen Notstandes gehandelt zu haben. Dafür dürfte nicht zuletzt Roger Federer mitverantwortlich gewesen sein. Denn der Richter geisselte nicht nur die ineffiziente Politik, er wies auch explizit darauf hin, dass Federer am Wochenende zuvor auf die Forderungen der Aktivist*innen reagiert hatte.[10] Dieses juristische Wunder hielt allerdings nicht lange. Mitte September hob das Waadtländer Kantonsgericht die Freisprüche auf und verurteilte die Aktivist*innen zu Bussen um 200 Franken und zur Übernahme der Gerichtskosten.[11]
Dass Weltstar Federer Stellung nahm, ist auch Greta Thunberg zu verdanken, die seine Zusammenarbeit mit der CS auf Twitter thematisierte. Federer reagierte schliesslich mit einem klaren Statement: «Ich nehme die Auswirkungen und die Bedrohung durch den Klimawandel sehr ernst, zumal meine Familie und ich inmitten der Zerstörung durch die Buschbrände in Australien ankommen», schrieb er, als er gerade zum Australian Open unterwegs war. Als Vater von vier Kindern und leidenschaftlicher Befürworter der universellen Bildung habe er grossen Respekt und Bewunderung für die Jugendklimabewegung. «Ich bin den jungen Klimaaktivisten dankbar, dass sie uns alle dazu zwingen, unser Verhalten zu überprüfen und nach innovativen Lösungen zu suchen. Wir sind es ihnen und uns selbst schuldig, zuzuhören.» Er sei sich seiner Verantwortung als Privatperson, als Athlet und als Unternehmer «sehr bewusst». Er «möchte diese privilegierte Position für den Dialog in diesen wichtigen Fragen mit meinen Sponsoren nutzen», schrieb Roger Federer.[12]
Wie ernst es um den ökologischen Zustand der Welt tatsächlich steht, wissen nicht nur Federer oder die Autor*innen des «Global Risk Report». Ein Beispiel aus Zentralafrika schildert die Geografin und Umweltaktivistin Hindou Dumarou Ibrahim im Vorwort zu Carola Racketes Buch «Handeln statt hoffen»: Seit Beginn des 21. Jahrhunderts ist die Durchschnittstemperatur im Tschad um mehr als 1,5 Grad Celsius angestiegen. Was auch für die meisten Länder Afrikas gelte. «Unsere Bäume brennen. Unsere Wasservorkommen versiegen. Unsere fruchtbaren Äcker verwandeln sich in Wüste.»
Als indigene Frau lebt und arbeitet Hindou Dumarou Ibrahim mit ihrer Gemeinschaft im Einklang mit der Natur. Die Jahreszeiten, die Sonne, den Wind und die Wolken sehen sie als Verbündete. «Inzwischen sind sie zu Feinden geworden.» Als Beispiel der verheerenden Veränderung erwähnt die Koordinatorin der Organisation «Femmes Peuples Autochones du Tchad» den Tschadsee, der früher einer der fünf grossen Süsswasserspeicher Afrikas war. «Als ich vor gut 30 Jahren geboren wurde, hatte der See eine Fläche von 10 000 Quadratkilometern. Heute sind es noch 1250.» Allein in ihrer Lebenszeit verschwanden also fast 90 Prozent des Sees.[13] Zum Vergleich: Der grösste See der Schweiz, der Bodensee, hat eine Fläche von rund 530 Quadratkilometern. Der Tschadsee schrumpfte also um eine Fläche, die 16 Mal so gross ist wie der Bodensee.
Während sich die Klimaerwärmung seit Jahren bereits deutlich manifestiert, kommt die Erkenntnis, dass wir das herrschende System grundlegend verändern müssen, erst langsam in der Mitte der Gesellschaft an. Obwohl der damalige Präsident der renommierten Eidgenössischen Technischen Hochschule (ETH) in Zürich, Joël Mesot, Ende 2019 nicht glaubte, «dass alles realistisch ist», was die Klima-Aktivist*innen auf der Strasse forderten, fand er Greta Thunbergs Engagement immerhin «hoch interessant». Die ETH wolle zwar Technologien anbieten, um den Klimawandel zu bekämpfen. «Aber Technologie allein genügt nicht. Es braucht auch Veränderungen in der Gesellschaft und den Willen aller Staaten, am gleichen Strick zu ziehen», sagte Mesot.[14]
In welche Richtung die Veränderungen der Gesellschaft und insbesondere das Wirtschaftssystem gehen müssen, formuliert die ehemalige Basler Ständerätin Anita Fetz. In ihrem Essay mit dem Titel «Kann die Demokratie den Kapitalismus zivilisieren?» schreibt Fetz, dass die modernen bürgerlichen Demokratien «nicht nur aus dem Prinzip des one woman one vote» bestehen, sondern «ganz entscheidend auch im Selbstverständnis, dass alle Menschen gleich viel wert sind und dass der Rechtsstaat die Minderheiten schützt». Die Sozialdemokratin windet der Schweizer Demokratie ein Kränzchen: «Kaum ein Land hat eine so weitgehende direkte Demokratie auf allen Staatsebenen verwirklicht wie die Schweiz. Wir können mitbestimmen von der Gestaltung des Dorfplatzes bis zur ökologischen und sozialen Verantwortung der Konzerne, die ihren Hauptsitz in der Schweiz haben.»
Fetz plädiert als fortschrittlich denkende Politikerin und Unternehmerin für eine ökosoziale Marktwirtschaft, um «das Verhältnis von Mensch und Wirtschaft wieder vom Kopf auf die Füsse» zu stellen. Die Wirtschaft sei für die Menschen da und nicht umgekehrt. Dafür brauche es nicht nur eine geschlossene Kreislaufwirtschaft, in der die Ressourcen konsequent wiederverwendet werden, sondern auch alternative Arbeitsformen und die Ausdehnung der Demokratie. Das heisst neben der verstärkten «Partizipation für die Mitarbeitenden» in den Unternehmen auch daran zu denken, dass «die nicht vermehrbare Natur wie Wasser und Boden allen gehören.» Anita Fetz fordert nicht nur deren «Vergemeinschaftung», sie blickt auch über die Grenzen: «Für eine starke Demokratie ist das Schweizer Modell der direkten Demokratie eine gute Ausgangslage.» Und mit Blick auf das weltweite Engagement der Jugend gegen den Klimawandel zeigt sie sich optimistisch. Die Jugendlichen seien einerseits «digital global vernetzt», gleichzeitig aber auch «analog vor Ort sichtbar in ihren Städten.» Fetz ist überzeugt, dass die Klimajugend die Zukunft verändert.[15]
Weil ihr die vielen Jahre als linke Politikerin in bürgerlich dominierten Parlamenten den Hang zum Träumen offenbar ausgetrieben hatten, spinnt sie den Faden nicht weiter. Sonst wäre sie zwangsläufig bei einer globalen, direkten Demokratie gelandet, deren Wirtschaftssystem sich auf eine ökosoziale Kreislaufwirtschaft stützt und als eine wesentliche Bedingung dafür den Grund und Boden sowie das Wasser vergesellschaftet hat.
Jugendliche Klima-Aktivist*innen argumentieren ähnlich wie die erfahrene Feministin Fetz. So schreibt beispielsweise Nadia Kuhn, dass der Kampf gegen den Klimawandel «Hand in Hand» gehen müsse «mit dem Kampf für mehr Demokratie und mehr Gerechtigkeit in allen Lebensbereichen.» Technokratische Scheinlösungen reichten nicht aus, um die drohende Umweltkatastrophe aufzuhalten, schreibt die Co-Präsidentin der Jungsozialist*innen des Kantons Zürich.[16]