»Na ja, vielleicht ist sie gestört worden. Das Telefon …« Kramer zuckte die Achseln.
»Möglich. Aber warum fängt die Frerichs hier in der Mitte an? Das passt nicht zu einer ordentlichen Frau wie ihr, ebenso wenig wie mit Gartenschuhen ins Haus zu laufen.«
Sein Blick maß den Verlauf der bearbeiteten Stelle ab. Nach hinten reichte sie bis zur Hecke, die hier die Grundstücksgrenze markierte, möglicherweise sogar unter ihr hindurch. Und vorne bis zum Rasen. Oder nein. Stahnke hockte sich hin und fuhr mit der Hand durch die dichten gestutzten Halme. Da waren Erdkrümel. Kurz entschlossen fasste er zu und zog. Ein kurzer Widerstand, dann hielt er eine Grassode in der Hand, sauber viereckig ausgestochen.
»Hier wurde nicht gegärtnert«, sagte er, während er sich erhob und sich die Erde von den Händen klopfte, »hier wurde gegraben. Aus- oder eingegraben. Und anschließend säuberlich wieder abgedeckt.« Mit dem Handrücken wischte er sich die Stirn; bei dieser Hitze trieb ihm selbst eine geringe Anstrengung den Schweiß aus den Poren.
Kramer hatte sich hingekniet und peilte mit schief gelegtem Kopf über das Gras. »Das reicht etwa drei, vier Meter weit in den Rasen hinein«, sagte er. »Dann ist Schluss, dahinter ist alles unverändert. Jetzt, wo man’s weiß, kann man es deutlich sehen.« Keine Entschuldigung, einfach Fakt.
Dann fragte er: »Soll ich?«
Stahnke nickte und krempelte sich die Hemdsärmel hoch, während der Oberkommissar Richtung Stallgebäude sprintete. Als er kurz darauf zurückkehrte, trug er nicht nur Schaufel und Spaten in der Hand, sondern auch zwei Stück Plastikplane unterm Arm. »Für die Rasensoden und die ausgehobene Erde«, erläuterte er überflüssigerweise. »Frau Frerichs muss das ebenso gemacht haben.«
Stahnke griff nach der Schaufel. Während Kramer vom Blumenbeet her die Soden abhob und sie ordentlich so auf ein Stück Plane legte, dass man ihre Lage später rekonstruieren konnte, machte sich sein Vorgesetzter ans Graben. Schaufelblatttief hob er den Boden aus, über eine Länge von etwa zwei Metern, dann machte er kehrt und nahm sich die nächste Schicht vor. Die Erde war locker und fast frei von Steinen und Bauschutt, trotzdem war Stahnkes Hemd schon nach wenigen Minuten schweißnass. Seinem Bauch würde die Bewegung sicherlich gut tun. Allerdings spürte er dabei eher seinen Rücken.
Die ersten achtzig, neunzig Zentimeter in die Tiefe waren kein Problem. Dann wurde die Erde plötzlich fester. Der Hauptkommissar hielt inne und stützte sich auf den Schaufelstiel.
»Tiefer ist hier nicht gegraben worden«, sagte er. »Fast sicher. Jedenfalls nicht in letzter Zeit.«
»Also wurde hier eher etwas ausgegraben«, vermutete Kramer. »Etwas, das hier deponiert war. Ausgegraben und abtransportiert.«
»Dann hat wohl eher der Frerichs selbst hier gegraben«, sagte Stahnke; sein Atem ging keuchend. »Und seine Frau hat ihn dabei gestört. Überrascht. Ob er sie deshalb …?«
»Und was war es, das hier lag?«, fragte Kramer.
»Na, doch wohl das, woran Sie auch denken«, erwiderte Stahnke. »Illegale Waffen, oder nicht?«
Kramer nickte. »Würde ja zu dem passen, was Manninga uns da erzählt hat«, sagte er. »Für wen er die wohl versteckt hat? Russenmafia oder Neonazis? Bunkerware für irgendwelche Islamisten? Aber vielleicht hat er ja auch selber damit gehandelt.«
Stahnke war wieder zu Atem gekommen. »Erst einmal gucken, ob noch etwas von dem Zeug hier ist, ehe wir weiterspekulieren«, entschied er und stieg aus der Grube. Sie erinnerte an einen Graben, gut möglich, dass hier einmal längliche Waffenkisten gelegen hatten. Er wandte sich dem nächsten Abschnitt zu, dem, der zur Mitte des Rasenstücks wies, unmittelbar vor der unbeschädigten Grasnarbe.
Wieder flog die lockere Erde, floss der Schweiß in Strömen. Stahnke keuchte fast vom ersten Schaufelstich an. Keine Mütze, dachte er, ich habe nichts auf dem Kopf. Wenn hier nichts liegt, mache ich erst einmal Pause, sonst hole ich mir noch einen Sonnenstich.
Aus den Augenwinkeln sah er, wie Kramer versuchte, mit seinem Spaten vor der Hecke zu graben. »Das bringt nichts«, rief er ihm zu, ohne mit dem Schaufeln innezuhalten. »Spaten sind etwas zum Umgraben, nicht zum Löcher machen.« Das hatten sie ihm beim Gullysetzen im Tiefbau beigebracht, wo er als Jugendlicher gejobbt hatte, und er bildete sich eine Menge auf sein Wissen ein. »Lassen Sie das, Sie Kindskopf!« Mist, dachte er praktisch im selben Augenblick. Wieder mal zu weit gegangen.
Da stieß seine Schaufel auf Widerstand.
»Hier ist etwas«, sagte er und winkte Kramer herbei. Er war sich seiner Sache sicher. Das war kein Stein, bestimmt, der Ruck im Schaufelstiel und der Klang waren anders gewesen. Nicht so hart, nicht so hell. Dumpfer, wie Holz eben. Eine Kiste, voll mit Gewehren und Munition? Mit Schwung und voller Ungeduld stieß er das Schaufelblatt in den lockeren Boden und hebelte eine neue Ladung Erde heraus.
Da kam etwas mit.
Es war graubraun, nicht viel anders als die Erde drum herum, und doch heller. Kein Stein, bestimmt nicht. Steine mochten zwar gelegentlich so glatt sein, aber sie sahen nicht so aus. Und sie schauten einen auch nicht so an. Was konnte das sein?
Etwas vom Gewicht einer Baggerschaufel presste seinen Magen zusammen. Unter perlendem Schweiß fühlte sich seine Haut plötzlich eiskalt an.
»Ein Schädel«, sagte Kramer, seine Stoikermaske wieder vor dem Gesicht. Dann runzelte er die Stirn: »Ein kleiner Schädel.«
Stahnke hatte sofort erkannt, was er da auf seiner Schaufel hatte. Noch aber sträubte sich etwas in ihm, das Erkannte auch zu glauben. Vorsichtig legte er es auf die Plane, bettete es sanft in die weiche Erde, der er es gerade entrissen hatte. »Kindskopf«, murmelte er.
4.
Diesmal war Roland alleine gekommen. Nane konnte sich nicht erinnern, dass er das zuvor schon einmal getan hatte. Roland tat niemals etwas aus eigenem Antrieb. Aber sie fand es schön, dass er da war. Und schöner noch, dass die anderen nicht mitgekommen waren.
»Wie geht es dir?«, fragte er mit aller Ernsthaftigkeit, die solch ein Krankenbesuch verlangte. »Heilt der Stich gut?«
»Ja. Danke«, sagte Nane. Ohne Vorwurf, wie auch aus Rolands Worten keinerlei Bitte um Entschuldigung klang. Beider Verhältnis zu diesen Dingen war nahezu geschäftsmäßig. Zug und Gegenzug, Aktion und Reaktion – eins zog das andere nach sich, das wusste sie, damit war zu rechnen, da gab es nichts zu jammern oder zu verzeihen.
»Gut«, sagte Roland und nickte. Seine Pranke näherte sich ihrer Bauchdecke, schob das Nachthemd hoch, fuhr über ihre Haut und betastete den Verband. Sie ließ es geschehen, ungerührt wie von der kumpelhaften Intimität eines Bruders, staunte darüber, wie zart die Berührung war. Rolands muskelbepackte Arme konnten Eisenstäbe biegen, aber sie würden niemandem etwas zu Leide tun, solange Vater es nicht befahl.
Roland räusperte sich. »Vater«, sagte er langsam, und plötzlich war alles anders. Seine Fingerkuppen brannten wie Eis auf ihrer Haut, ihre Bauchmuskeln spannten sich zuckend, die frische Wunde schickte Wellen des Schmerzes durch ihren ganzen Körper.
Sofort zog er die Hand zurück. »Vater sagt, es ist gut«, fuhr er fort. »Erst einmal gut. Er hat Sanna gesagt, es ist gut.« Er wiederholte es eindringlich. Vaters Gebote, sein Evangelium. »Er hat Sanna gesagt, lass sie jetzt. Lass sie jetzt, hörst du? Aber pass auf, Sanna, pass gut auf. Pass gut auf Nane auf. Was sie sagt. Pass gut auf Nane auf. Was sie tut. Pass gut auf. Das hat er gesagt.« Sie spürte Rolands Hand in ihrer, fühlte seine Muskeln, spürte seine Besorgnis. »Du musst vorsichtig sein, Nane, hörst du? Vorsichtig. Was du sagst und was du tust. Ja? Wirst du das?«
»Ja«, sagte sie. »Ja, Roland. Ich werde aufpassen. Ganz bestimmt. Mach dir keine Sorgen.«
»Das ist gut«, sagte Roland, und er klang erleichtert. »Ja, das ist gut. Gut ist das.« Behutsam drückte er ihre Hand, hielt sie fest. Sie schloss die Augen. Es ist schön,