Keine der Belagerungsarmeen, die vor der Landmauer aufmarschierten, konnte diese physischen und psychologischen Bollwerke überwinden. Keiner der Möchtegern-Eroberer verfügte über die Technik zur Erstürmung der Befestigungsanlagen oder über genug Kriegsschiffe, um das Meer abriegeln. Keiner brachte die Geduld auf, die Bewohner auszuhungern. Das Reich wankte zwar häufig, bewies aber eine beträchtliche Widerstandskraft. Die Infrastruktur der Stadt, die Stärke der Institutionen des Imperiums und der glückliche Zufall, dass es in schwierigen Zeiten über herausragende Führer verfügte, erzeugten sowohl bei den Einwohnern Konstantinopels als auch seinen Feinden den Eindruck, das Oströmische Reich werde die Zeiten überdauern.
Doch die Erfahrung der Belagerung durch die Araber prägte die Stadt nachhaltig. Die Menschen erkannten den Islam als eine Gegenkraft, die sich nicht mehr gänzlich zurückdrängen lassen würde, als einen Gegner, der sich qualitativ von allen bisherigen Feinden unterschied; in ihren Prophezeiungen über die Sarazenen – wie die Araber von den Christen genannt wurden – kamen ihre Vorahnungen über das Schicksal der Welt zum Ausdruck. Ein Autor bezeichnete sie als das vierte Tier der Apokalypse, als »das vierte Reich auf Erden, das zerstörerischste aller Reiche, das die gesamte Welt in eine Wüste verwandeln wird«.24 Und gegen Ende des 11. Jahrhunderts wurde Byzanz vom Islam abermals ein Schlag versetzt. Er kam so unverhofft, dass damals kaum jemand seine Bedeutung erkannte.
Gott, der Allmächtige, sagt: Ich habe ein Heer, welches ich Türken nannte und im Osten ansiedelte. Wenn ich nun einem Volke zürne, lasse ich die Türken über sie herrschen.
Al-Kashgari1
Das Auftauchen der Türken erweckte den schlummernden Geist des Heiligen Krieges. Sie waren erstmals im 6. Jahrhundert an den Grenzen des Byzantinischen Reiches erschienen und hatten Gesandte nach Konstantinopel geschickt, um mit Byzanz ein Bündnis gegen das Perserreich zu bilden. Für die Byzantiner waren sie zunächst nur eines von zahlreichen Völkern, die an die große Stadt heranzukommen versuchten; ihr angestammtes Gebiet lag jenseits des Schwarzen Meeres und erstreckte sich bis nach China. Sie waren heidnische Steppenbewohner aus den grasbewachsenen Ebenen Zentralasiens, von deren Epizentrum immer wieder Schockwellen ausgingen durch nomadische Reiter, die über die sesshaften Völker im Westen herfielen. Sie haben uns das Wort ordu hinterlassen (»Horde«) zur Erinnerung an diese Ereignisse, wie ein schwacher Hufabdruck im Sand.
Byzanz war schon mehrmals durch diese Nomaden verwüstet worden, bevor ihr Name im Reich zu einem Begriff wurde. Die ersten Turkvölker, die den sesshaften Griechen zu schaffen machten, waren vermutlich die Hunnen, die im 4. Jahrhundert über die christliche Welt hinwegfegten; ihnen folgten die Bulgaren, und jede dieser aufeinanderfolgenden Wogen erschien den Opfern so unerklärlich wie eine Heuschreckenplage, die über das Land hereinbrach. Die Byzantiner betrachteten diese Heimsuchungen als eine Strafe Gottes für ihre Sünden. Wie ihre Vettern, die Mongolen, lebten die Türken im Sattel der Pferde zwischen der großen Erde und dem weiten Himmel und verehrten beide mittels ihrer Schamanen. Sie waren rastlos, beweglich und stammesbewusst und lebten von der Viehzucht und Überfällen auf ihre Nachbarn. Beutezüge zu unternehmen, war ein Lebenszweck für sie, Städte galten ihnen als Feinde. Durch den Einsatz des Kompositbogens und ihrer Taktik der Kriegführung zu Pferd waren sie den sesshaften Völkern militärisch überlegen, was der arabische Historiker Ibn Khaldun als einen entscheidenden Faktor der geschichtlichen Entwicklung betrachtete. »Die sesshafte Bevölkerung [hat] sich dem ruhigen und bequemen Leben hingegeben«, schrieb er. »Die Menschen vertrauen auf die Mauern, die sie umgeben, und die Befestigungen, durch die sie abgeschirmt werden. Die nomadische Bevölkerung [verachtet] Mauern und Tore [und] verteidigt sich selbst. So tragen die Menschen stets Waffen, spähen nach allen Seiten des Weges, geben sich nur dann kurz dem Schlummer hin, wenn sie nicht allein sind oder oben auf dem Sattel des Kamels sitzen, lauschen aufmerksam auf die Geräusche und Rufe… So sind Tapferkeit bei ihnen zur Wesensart und Mut zum natürlichen Charakterzug geworden.«2 Dieser Aspekt sollte bald in der christlichen wie auch der islamischen Welt neue Bedeutung erlangen.
Wiederholte Erschütterungen im Herzen Asiens trieben diese Turkvölker nach Westen; im 9. Jahrhundert kamen sie mit der muslimischen Bevölkerung des Iran und des Irak in Berührung. Der Kalif von Bagdad erkannte ihre kämpferischen Qualitäten und gliederte sie als Militärsklaven in seine Heere ein; Ende des 10. Jahrhunderts hatte der Islam nachhaltig Fuß gefasst unter den Türken im Grenzgebiet, doch diese hielten an ihrer Identität und ihrer Sprache fest und sollten bald ihren Herren die Macht entreißen. Mitte des 11. Jahrhunderts übernahm die türkische Dynastie der Seldschuken das Sultanat von Bagdad, und bereits gegen Ende dieses Jahrhunderts wurde die islamische Welt von Zentralasien bis Ägypten von den Türken beherrscht.
Ihr rascher Aufstieg in der islamischen Welt wurde weithin als ein Werk der Vorsehung betrachtet, das Gott ausrichtete, um »den ersterbenden Atem des Islam wiederzubeleben und die Einheit der Muslime wiederherzustellen«.3 Zur selben Zeit regierte in Ägypten eine nichtorthodoxe Schia-Dynastie, sodass die türkischen Seldschuken, die sich der orthodoxen sunnitischen Lehre zugewandt hatten, als legitime gazi auftreten konnten, als Glaubenskämpfer, die den Dschihad gegen die Ungläubigen und den nichtorthodoxen Islam führten. Die Haltung des militanten Islam kam dem Kampfgeist der Türken sehr entgegen; ihre Lust am Plündern konnte als frommer Dienst an Allah gerechtfertigt werden. Unter dem türkischen Einfluss lebte im Islam der Eifer der frühen arabischen Eroberungszüge wieder auf, und der Krieg gegen die christlichen Feinde wurde in größerem Rahmen wieder aufgenommen. Sultan Saladin war zwar Kurde, doch die Armeen, die er und seine Nachfolger ins Feld führten, waren vom Ethos der Türken beseelt. »Gott sei gelobt«, schrieb AlRawandi im 13. Jahrhundert, »der Islam ist stark… Bei den Arabern, Persern, Romäern und Russen ist das Schwert in der Hand der Türken, und die Furcht vor ihrem Schwert ist tief in den Herzen der Menschen verankert.«4
Nachdem der Islam neuen Auftrieb erhalten hatte, dauerte es nicht lange, bis an der Südgrenze Anatoliens der Konflikt zwischen Christen und Muslimen, der einige Jahrhunderte weitgehend eingedämmt war, wieder voll entbrannte. Die Seldschuken in Bagdad waren beunruhigt über widerspenstige nomadische Stammeskrieger, die Turkmenen, deren Raubzüge einen Störfaktor im islamischen Herzland darstellten. Sie brachten diese Stammeskrieger dazu, ihre Energie nach Westen zu richten, gegen Byzanz – das Königreich Rum. Mitte des 11. Jahrhunderts fielen marodierende Gazi-Kämpfer im Namen des Heiligen Krieges so häufig in das christliche Anatolien ein, dass sich der Kaiser in Konstantinopel zu einer militärischen Reaktion gezwungen sah.
Im März 1071 begab sich Kaiser Romanus IV. Diogenes persönlich in den Osten, um die Situation zu bereinigen. Im August traf er bei Mantzikert in Ostanatolien aber nicht auf die Turkmenen, sondern auf ein Heer der Seldschuken unter deren herausragendem Befehlshaber Sultan Alp Arslan, des »heldenhaften Löwen«. Es war ein eigenartiges Ereignis. Der Sultan wollte eigentlich gar nicht kämpfen. Ihm ging es nicht in erster Linie darum, gegen die Christen Krieg zu führen, er wollte vielmehr das verhasste Schiiten-Regime in Ägypten niederwerfen. Er schlug einen Waffenstillstand vor, den die Römer jedoch ablehnten. Das folgende Gefecht endete mit einem überwältigenden Sieg der Muslime, wozu maßgeblich ihre klassische Taktik des Hinterhalts beitrug. Erschwerend kam die Tatsache hinzu, dass viele byzantinische Söldner zum Gegner überliefen. Romanus kam mit dem Leben davon und küsste den Boden vor dem siegreichen Sultan, der ihm einen Fuß auf den Hals setzte als symbolisches Zeichen seines Triumphes und der Unterwerfung des Feindes. Dies sollte sich als ein Wendepunkt der Weltgeschichte erweisen – und als eine Katastrophe für Konstantinopel.
Für die Byzantiner war die Schlacht von Mantzikert der »Tag des Schreckens«, eine Niederlage von verheerenden Ausmaßen, die ihre Zukunft lange überschatten sollte. Doch ihre volle Tragweite erkannte man in Konstantinopel erst später. Die Turkmenen stießen nun nach Anatolien vor, ohne auf Widerstand zu treffen; wo sie vorher Überfälle verübt und sich wieder zurückgezogen hatten, richteten sie sich jetzt dauerhaft ein und drangen immer weiter nach Westen vor in den Löwenkopf Anatoliens. Nach den heißen Wüsten das Iran und des Irak war das sanft gewellte Hügelland der Hochebene eine Landschaft, die den Nomaden aus Zentralasien