In medizinischen Büchern, die diesem vergleichbar sind, werden üblicherweise Symptome, Diagnostik und Therapie-Optionen verschiedener Erkrankungen geschildert. Da Diagnostik und Therapie des Krankheitsbildes ME/CFS jedoch kontrovers diskutiert werden und umstritten sind, war es unverzichtbar, den üblichen Rahmen zu erweitern und medizinische, soziale, wirtschaftliche und ethische Missstände zu schildern, die auf diesem medizinischen Richtungsstreit basieren. Um den katastrophalen Status quo zu ändern und eine verbesserte Versorgung zu erreichen, mussten komplexe wissenschaftliche Zusammenhänge fachlich qualifiziert und nachprüfbar (z.B. durch Verweise auf Studien) geschildert werden. Das ist nicht immer leserfreundlich (obwohl ich mich sehr um Verständlichkeit bemüht habe) – aber notwendig. Nur Fakten können überzeugen.
Die Ausführungen zum Krankheitsbild ME/CFS basieren auf dem Konzept der „Systemischen Epimedizin“. Dieser Begriff wird neu eingeführt und umfasst mehrere Wissenschaftsdisziplinen: Genetik und Epigenetik, Mitochondrien-Medizin, Psycho-Neuro-Endokrino-Immunologie und Umweltmedizin. Die Systemische Epimedizin steht in Diagnostik und Therapie nicht zwingend in Übereinstimmung mit den Methoden der etablierten Medizin. Sie steht jedoch im Einklang mit aktuellen internationalen Studien, die in renommierten Wissenschaftspublikationen veröffentlicht wurden. Die englischsprachige medizinische META-Datenbank PubMed veröffentlicht die biomedizinischen Artikel der Nationalen Medizinischen Bibliothek der Vereinigten Staaten (National Library of Medicine, NLM). Diese Studien sind unter der Internetadresse www.ncbi.nlm.nih.gov/ pubmed leicht einsehbar und kostenfrei zugänglich.
Aufbruchstimmung
Derzeit gibt es weder eine labortechnisch nachweisbare Ursache noch eine angemessene Versorgung für ME/CFS. Grund genug, dieser Erkrankung einen Sonderband zu widmen, zumal nach jahrzehntelangem nur zähem Vorankommen in der ME/CFS-relevanten Forschung aktuell eine Aufbruchstimmung wahrzunehmen ist. Die Studien und Entwicklungen, die zu dieser Aufbruchstimmung führen, werden in Kapitel 4 dargestellt. Über viele Jahrzehnte wurde versucht, diese Erkrankung zu ignorieren und zu diskreditieren.
Es scheint, als trage der verzweifelte, internationale Kampf der Betroffenen und ihrer Unterstützer um Anerkennung und Aufklärung endlich Früchte.
Spitzenforscher nutzen derzeit die innovativsten Technologien der Molekularbiologie. Drei Nobelpreisträger sind mit ihrer Expertise im wissenschaftlichen Beirat des auf ME/CFS spezialisierten amerikanischen Forschungs-Institutes, der Open Medicine Foundation, vertreten. International werden vielschichtige strukturelle und funktionelle Auffälligkeiten in den Genen, in Proteinen, im Immun- und Nervensystem, im Mikrobiom und in den Mitochondrien nachgewiesen.
Über viele Jahre gab es in Deutschland heftige Auseinandersetzungen um die sogenannte Leitlinie Müdigkeit, in der die Empfehlungen der Fachgesellschaften zur Diagnostik und Therapie von ME/CFS dargestellt wurden. Bestimmte Empfehlungen wurden als potentiell schädigend von Betroffenen, Angehörigen, Patienten-Organisatoren, Behandlern und Wissenschaftlern scharf kritisiert.
In der revidierten, nun gültigen Fassung der Leitlinie Müdigkeit, die im Mai 2018 veröffentlicht wurde, nahmen die Autoren nun Abstand davon, dass diese Leitlinie als Grundlage für die Diagnostik und Behandlung von ME/CFS zu verwenden sei. Das bedeutet einen Meilenstein auf dem langen Weg zu einer angemessenen Behandlung.
Als Autorin wünsche ich meinem Buch viele Leser, das ist nicht ungewöhnlich. Aber ich wünsche mir auch, dass es bald neu geschrieben werden muss: Der aktuelle wissenschaftliche Forschungsstand ist per Definition immer ein vorläufiger. Sicher werden wir bald mehr wissen über die Ursache(n) und über ME/CFS-spezifische Biomarker. Zu wünschen wäre auch, dass die Kapitel über die katastrophalen Lebensumstände neu geschrieben werden müssen, weil die Gesundheitspolitik ME/CFS-Patienten endlich ernst nimmt und eine bessere medizinische und soziale Versorgung gewährleistet.
Die zahlreichen Ehrenamtler, die in der ME/CFS-Selbsthilfe, in Patienten-Organisationen, im Bundesverband Fatigatio e.V. oder in anderen Zusammenhängen aktiv sind, sind meist selbst an ME/CFS erkrankt. Sie haben viel Wissen, viel Erfahrung, viele gute Ideen – ber zu wenig Kraft. Ehrenamtler, Behandler, Angehörige und Freunde gehen Tag für Tag an ihre Grenzen und über ihre Grenzen, um Betroffenen zu helfen. † Kurz vor der Drucklegung dieses Buches wurde bekannt, dass Frau Edelgard Klasing, die Vorsitzende des Bundesverbandes Fatigatio e.V. am 1. Juli 2018 völlig unerwartet verstarb. †
ME/CFS braucht Fürsprecher, Botschafter, Unterstützer und Multiplikatoren
Um Veränderungen zu erreichen, muss weiter intensiv geforscht werden. Aber diese Erkrankung braucht darüber hinaus auch Menschen, die als Fürsprecher, Botschafter, Unterstützer und Multiplikatoren für eine bessere medizinische und soziale Versorgung eintreten. Wenn dieses Buch zu solchem Engagement ermutigen könnte, hätte sich die Veröffentlichung schon aus diesem Grund gelohnt.
Multisystem-Erkrankungen – die medizinische Herausforderung unserer Zeit
Der vorliegende Band 1 ME/CFS erkennen und verstehen dieser Reihe kann unabhängig von Band 2: Multisystem-Erkrankungen erkennen und verstehen gelesen werden. Die Themen überschneiden sich, die Gewichtungen sind jedoch sehr unterschiedlich.
„Multisystem-Erkrankungen erkennen und verstehen“
Multisystem-Erkrankungen sind gegenwartsbezogene, neuartige Krankheitsbilder. Sie finden sich unter diesem Begriff jedoch bislang (bis auf wenige Ausnahmen) weder in medizinischen Lehrbüchern noch in ärztlichen Leitlinien. Der Begriff wird uneinheitlich verwendet und umfasst im weiteren Sinne nahezu alle entzündlichen Zivilisations-Erkrankungen, wie z.B. Diabetes mellitus, Neurodegenerative Erkrankungen oder Herz-Kreislauf-Erkrankungen.
■ Das Chronische Erschöpfungs-Syndrom (ME/CFS)
■ Das Fibromyalgie-Syndrom (FMS)
■ Die Multiple Chemikalien-Sensitivität (MCS) und
■ Das Posttraumatische BelastungsSyndrom (PTBS)
gehören zu den komplexesten erworbenen Multisystem-Erkrankungen. Diese Erkrankungen folgen nicht einem geradlinigen Ursache-Wirkungs-Muster, das überschaubar und verstehbar wäre. Sie sind daher außerordentlich vielschichtig, die Symptome sind unspezifisch und erfordern Detektivarbeit. Die Palette möglicher Ursachen ist unüberschaubar, nicht nur ein Organ ist betroffen, sondern der ganze Organismus. Jede Erkrankung ist dabei individuell wie ein Fingerabdruck, selbst Patienten mit dem gleichen Syndrom unterscheiden sich untereinander sehr. Unser medizinisches System ist nach Fachdisziplinen unterteilt. Komplexe Multisystem-Erkrankungen lassen sich jedoch nicht einer einzigen Fachdisziplin zuordnen. Interdisziplinäre Kooperation steckt in Deutschland bislang noch in den Kinderschuhen. Sie ist eher die Ausnahme als die Regel.
Hilfe gäbe es aus der Forschung: hier explodiert das Wissen über biochemische, epigenetische und genetische Zusammenhänge, die das systemische Geschehen verstehbar machen. Diese Grundlagenforschung erreicht die Arztpraxen jedoch nur mit zeitlicher Verzögerung oder auch gar nicht. Es vergehen in diesem schwerfälligen Prozess Jahre, bis wichtige Erkenntnisse den Weg in die ärztlichen Leitlinien finden. Der verzögerte Wissenstransfer führt zu einer immensen Kluft zwischen Forschung und ärztlicher Praxis. Immer mehr multisystemisch erkrankte Patienten stellen sich daher die Frage, ob ihre Behandlung auf die Empfehlungen der etablierten Medizin beschränkt bleiben sollte. Nicht wenige Ärzte geben ihre Zulassung ab und arbeiten als Privatärzte, um eine umfassendere Diagnostik und Therapie anbieten zu können, die auf präzisen molekularbiologischen Technologien beruhen. Diese innovativen Untersuchungen sind verfügbar, derzeit gehören sie jedoch nicht zu den Leistungen, die durch die Krankenkassen regelhaft übernommen werden. Vielen Ärzten sind sie gar nicht bekannt.
Als erworbene, stress- und umweltbedingte Erkrankungen haben Multisystem-Erkrankungen auch eine politische