»Weil ich ihrer so viele geliebt habe, Dorian.«
»Oh! Gewiss grässliche Personen mit gefärbtem Haar und geschminkten Gesichtern.«
»Mach nur gefärbtes Haar und geschminkte Gesichter nicht schlecht. Es liegt manchmal etwas überaus Reizvolles in ihnen.«
»Ich wollte, ich hätte dir nicht von Sibyl Vane erzählt.«
»Du musstest mit mir darüber sprechen, Dorian. Dein ganzes Leben lang wirst du mir alles erzählen, was du tust.«
»Ja, Harry, ich glaube, das ist wahr. Ich muss dir alles sagen. Du hast einen seltsamen Einfluss auf mich. Wenn ich je ein Verbrechen beginge, käme ich zu dir und beichtete es. Du verstündest mich.«
»Menschen wie du – die kecken Sonnenstrahlen des Lebens – begehen keine Verbrechen, Dorian. Aber trotzdem verbindlichsten Dank für das Kompliment. Und nun sage mir – gib mir Feuer, sei so gut; danke schön! – in was für einem Verhältnis stehst du jetzt zu Sibyl Vane?«
Dorian Gray sprang errötend und mit blitzenden Augen auf. »Harry! Sibyl Vane ist mir heilig!«
»Nur heilige Dinge verlohnt es sich anzurühren, Dorian«, sagte Lord Henry, und ein seltsamer Anflug von Pathos war in seine Stimme gekommen. »Aber warum willst du böse sein? Ich vermute, sie wird dir eines Tages gehören. Wenn man verliebt ist, betrügt man immer anfangs sich selbst und am Ende die andern. Das nennt die Welt einen Liebesroman. Du hast sie doch jedenfalls kennengelernt, denke ich?«
»Natürlich kenne ich sie. Als ich am ersten Abend im Theater war, kam der grässliche alte Jude nach der Vorstellung an meine Loge und bot mir an, er wolle mich hinter die Kulissen führen und mich ihr vorstellen. Ich war wütend und sagte zu ihm, Julia sei seit ein paar hundert Jahren tot und ihr Leichnam sei in einem marmornen Grab in Verona bestattet. Nach seinem bestürzten Blick zu schließen hatte er den Eindruck, ich hätte zu viel Champagner getrunken oder etwas der Art.«
»Durchaus zu begreifen.«
»Dann fragte er mich, ob ich für irgendeine Zeitung schriebe. Ich antwortete, dass ich nicht einmal eine läse. Er schien darüber furchtbar enttäuscht und vertraute mir an, alle Theaterkritiker hätten sich gegen ihn verschworen, und sie wären einer wie der andre zu kaufen.«
»Es sollte mich nicht wundern, wenn er damit ganz recht hätte. Aber anderseits, nach ihrem Äußern zu urteilen, können die meisten von ihnen nicht sehr teuer sein.«
»Immerhin schien er zu glauben, sie gingen über seine Verhältnisse«, lachte Dorian. »Mittlerweile waren aber die Lichter im Theater ausgedreht worden, und ich musste gehn. Er bat mich, ein paar Zigarren zu versuchen, die er mir lebhaft empfahl. Ich dankte. Am nächsten Abend war ich natürlich wieder da. Als er mich sah, verbeugte er sich tief vor mir und versicherte mir, ich sei ein edelmütiger Gönner der Kunst. Er war ein sehr abstoßender Kerl, obwohl er eine ungewöhnliche Leidenschaft für Shakespeare hatte. Er erzählte mir einmal mit stolzer Miene, seine fünf Bankrotte verdanke er ausschließlich ›dem Barden‹, wie er ihn hartnäckig nannte. Er schien das für eine Ehre zu halten.«
»Es ist eine Ehre, lieber Dorian – eine große Ehre. Die meisten Leute werden bankrott, weil sie zuviel in der Prosa des Lebens angelegt haben. Sich durch Poesie zugrunde gerichtet zu haben, ist ein auszeichnender Vorzug. Aber wann sprachst du zum ersten Mal mit Fräulein Sibyl Vane?«
»Am dritten Abend. Sie hatte die Rosalinde gespielt. Ich musste zu ihr gehn. Ich hatte ihr einige Blumen zugeworfen, und sie hatte mich angesehn, wenigstens bildete ich es mir ein. Der alte Jude war hartnäckig. Er schien entschlossen, mich mit nach hinten zu nehmen, und so willigte ich ein. Es war seltsam, dass ich sie nicht kennenlernen wollte, nicht?«
»Nein, ich glaube nicht.«
»Lieber Harry, warum?«
»Ich sage es dir ein andermal. Jetzt möchte ich von dem Mädchen hören.«
»Von Sibyl? Oh, sie war so schüchtern und so freundlich. Sie ist noch fast wie ein Kind. Sie machte in reizendem Staunen große Augen, als ich ihr sagte, was ich von ihrer Darstellung hielt, und sie schien von ihrem Können gar nichts zu wissen. Ich glaube, wir waren beide recht nervös. Der alte Jude stand grinsend an der Tür des staubigen Ankleidezimmers und hielt große Reden über uns beide, während wir einander wie zwei Kinder ansahen. Er bestand darauf, mich ›Herr Baron‹ zu nennen, und so musste ich Sibyl sagen, dass ich nichts der Art sei. Sie sagte ganz schlicht zu mir: ›Sie sehen mehr wie ein Prinz aus. Ich muss Sie Prinz Wunderhold nennen‹.«
»Auf mein Wort, Dorian, Fräulein Sibyl versteht sich aufs Schmeicheln.«
»Du verstehst sie nicht, Harry. Sie betrachtete mich nur so wie eine Gestalt in einem Stück. Sie weiß nichts vom Leben. Sie lebt bei ihrer Mutter, die eine verblühte ältliche Frau ist. Am ersten Abend spielte sie in einer Art türkischem Morgenrock die Lady Capulet, und sie sieht aus, als ob sie bessere Tage gesehen hätte.«
»Ich kenne dieses Aussehen; es ist mir peinlich«, sagte Lord Henry mit unterdrückter Stimme und spielte mit seinen Ringen.
»Der Jude wollte mir ihre Geschichte erzählen, aber ich sagte, sie interessiere mich nicht.«
»Da hattest du recht. Andrer Leute Tragödien haben immer etwas unsäglich Gemeines.«
»Ich kümmere mich um nichts als um Sibyl. Was bedeutet es mir, woher sie stammt? Von ihrem kleinen Kopf bis zu ihren kleinen Füßen ist sie ganz und gar ein himmlisches Geschöpf. Jeden Abend