»Ich fürchte, ich muss gehn«, rief Lady Henry und brach ein unangenehmes Schweigen mit ihrem albernen unmotivierten Lachen. »Ich habe versprochen, mit der Herzogin auszufahren. Adieu, Herr Gray! Adieu, Harry! Du isst nicht zu Hause, nicht wahr? Ich auch nicht. Vielleicht sehe ich dich bei Lady Thornbury.«
»Sehr wahrscheinlich, meine Liebe«, sagte Lord Henry und schloss die Tür hinter ihr, als sie, anzusehn wie ein Paradiesvogel, der die ganze Nacht im Regen gewesen, wie auf der Flucht das Zimmer verlassen hatte. Sie hinterließ einen leichten Duft von Jasminparfüm. Lord Harry steckte eine Zigarette an und machte sich’s auf dem Sofa bequem.
»Heirate nie eine Frau mit strohfarbenem Haar, Dorian«, sagte er nach einigen Zügen.
»Warum nicht, Harry?«
»Weil sie so sentimental sind.«
»Aber ich liebe sentimentale Menschen.«
»Heirate überhaupt nie, Dorian. Männer heiraten, weil sie müde sind; Frauen, weil sie neugierig sind: beide werden enttäuscht.«
»Ich glaube nicht, dass ich heiraten werde, Harry. Ich bin zu sehr verliebt. Das ist eins deiner Aphorismen. Ich setze es in Praxis um, wie alles, was du sagst.«
»In wen bist du verliebt?«, fragte Lord Henry nach einer Pause.
»In eine Schauspielerin«, sagte Dorian Gray errötend.
Lord Henry zuckte die Achseln. »Das ist ein recht gewöhnliches Debüt.«
»Das sagtest du nicht, wenn du sie sähest, Harry.«
»Wer ist es?«
»Sie heißt Sibyl Vane.«
»Habe nie von ihr gehört.«
»Niemand kennt sie. Aber die Menschen werden eines Tages von ihr hören. Sie ist ein Genie!«
»Mein lieber Junge, kein Weib ist ein Genie. Die Weiber sind das dekorative Geschlecht. Sie haben nie etwas zu sagen, aber sie sagen es entzückend. Die Weiber verkörpern den Triumph der Materie über den Geist, so wie die Männer den Triumph des Geistes über die Moral vorstellen.«
»Harry, wie kannst du!«
»Lieber Dorian, das ist sehr wahr. Ich bin gerade mit einer Analyse der Weiber beschäftigt, daher muss ich es wissen.
Der Gegenstand ist nicht so verworren, wie ich dachte. Ich finde, es gibt schließlich nur zwei Arten von Frauen, die schlichten und die geschminkten. Die schlichten sind sehr nützlich. Wenn du in den Ruf der Ehrbarkeit kommen willst, musst du nur mit einer von ihnen zu Abend essen gehn. Die andern Frauen sind sehr reizend. Einen Fehler jedoch begehen sie: sie gebrauchen Farbe in der Absicht, jung auszusehn. Unsre Großmütter gebrauchten Farbe, um glänzend zu plaudern. Rouge und Esprit gingen gewöhnlich zusammen. Das ist jetzt alles vorbei. Solange eine Frau zehn Jahre jünger aussehn kann als ihre Tochter, ist sie völlig zufriedengestellt. Was die Unterhaltung angeht, so gibt es nur fünf Frauen in London, mit denen es sich zu reden lohnt, und zwei davon sind in anständiger Gesellschaft unmöglich. Indessen, erzähle mir von deinem Genie! Seit wann kennst du sie?«
»Ach, Harry, deine Worte entsetzen mich!«
»Kümmere dich nicht darum. Seit wann kennst du sie?«
»Seit ungefähr drei Wochen.«
»Und wie kamst du mit ihr zusammen?«
»Ich will es dir erzählen, Harry; aber du darfst es nicht leichthin nehmen. Schließlich wäre es nie dazu gekommen, wenn ich dich nicht gefunden hätte. Du fülltest mich mit einem wilden Verlangen, alles im Leben kennen zu lernen. Viele Tage, nachdem ich dich kennen gelernt hatte, schien etwas in meinen Adern zu pochen. Wenn ich im Park spazierte oder nach Piccadilly schlenderte, schaute ich jeden an, der mir begegnete, und wollte mit wilder Neugier herausbekommen, was für ein Leben sie alle führten. Einige von ihnen zogen mich an, andere füllten mich mit Schauder. Es lag ein verführerisches Gift in der Luft. Meine Sinne dürsteten nach Erlebnissen … Nun, eines Abends gegen sieben Uhr beschloss ich auszugehn, auf die Suche nach einem Abenteuer. Ich empfand, unser graues, ungeheures London mit seinen vielen Hunderttausenden, seinen schmutzigen Sündern und seinen glänzenden Sünden, wie du dich einmal ausdrücktest, müsse etwas für mich in Bereitschaft halten. Ich träumte von tausend Dingen. Schon die bloße Gefahr machte mir Genuss. Ich erinnerte mich an die Worte, die du an dem wundervollen Abend zu mir sprachst, als wir zuerst zusammen speisten, von dem Suchen nach der Schönheit, die das wahre Geheimnis des Lebens ist. Ich weiß nicht, was ich erwartete, aber ich ging los und wanderte in den Osten, wo ich bald in einem Gewirr von rußigen Gassen und schwarzen Plätzen, die kein Fleckchen Grün hatten, meinen Weg verlor. Gegen halb acht Uhr kam ich an einem komischen kleinen Theater mit großen flackernden Gasflammen und grellen Ankündigungen vorbei. Ein scheußlicher Jude, der das absonderlichste Wams trug, das ich in meinem Leben gesehen habe, stand am Eingang und rauchte eine stinkende Zigarre. Er hatte fettige Ringellöckchen, und ein riesiger Diamant blitzte auf seiner schmutzigen Hemdenbrust. »Bilett gefällig, Herr Baron?«, fragte er, als er mich sah, und nahm mit einer Miene großartiger Unterwürfigkeit den Hut ab. Es war so erlesen scheußlich. Du wirst mich natürlich auslachen, aber ich trat tatsächlich ein und zahlte zwanzig Mark für die Proszeniumsloge. Noch heute weiß ich nicht, warum ich das tat; und doch, wenn es nicht geschehen wäre – liebster Harry, wenn es nicht geschehen wäre, würde mir das größte Ereignis meines Lebens entgangen sein. Ich sehe, du lachst. Es ist abscheulich von dir!«
»Ich lache nicht, Dorian; wenigstens lache ich nicht über dich. Aber du solltest es nicht das größte Ereignis deines Lebens nennen. Es wäre eher das erste Ereignis deines Lebens zu nennen. Du wirst immer geliebt werden, und du wirst immer in die Liebe verliebt sein. Eine grande passion ist das Vorrecht der Menschen, die nichts zu tun haben. Das ist der einzige Nutzen der Faulenzerklasse eines Landes. Sei nicht zaghaft! Köstliche Dinge warten auf dich. Das ist nur der Anfang.«
»Hältst du meine Natur für so oberflächlich?«, rief Dorian zornig.
»Nein, ich halte sie für so tief.«
»Wie verstehst du das?«
»Mein lieber Sohn, die Menschen, die nur einmal im Leben lieben, sind in Wahrheit die Oberflächlichen. Was sie ihre Treue nennen, nenne ich entweder die Trägheit der Gewohnheit oder ihren Mangel an Fantasie. Treue ist für das Gefühls- und Triebleben, was die Konsequenz für das geistige Leben ist – weiter nichts als ein Eingeständnis der Schwäche. Treue! Ich muss mich einmal daran machen, sie zu analysieren. Es liegt Besitzgier in ihr. Wie viele Dinge würden wir wegwerfen, wenn wir nicht fürchteten, andre würden sie aufheben. Aber ich will dich nicht unterbrechen. Erzähle weiter!«
»Also, ich saß in einer schauderhaften kleinen verhängten Loge und hatte den gemeinen Vorhang direkt vor den Augen. Ich blickte hinter der Gardine vor und sah mich im Hause um. Es war alles lächerlich ausgeputzt, lauter Kupidos und Füllhörner, wie auf einem Hochzeitskuchen schlimmster Sorte. Die Galerie und der Stehplatz waren ziemlich voll, aber die beiden Reihen schmutziger Sperrsitze waren ganz leer, und kaum ein Mensch war auf dem Platz, den sie vermutlich den ersten Rang nannten. Frauen liefen mit Orangen und Ingwerbier herum, und schrecklich viele Haselnüsse wurden aufgeknackt.«
»Es muss genau wie in der Blütezeit des englischen Dramas gewesen sein.«
»Genau so, glaube ich, und sehr deprimierend. Ich hatte angefangen, mir zu überlegen, was in aller Welt ich tun sollte, als mein Blick auf den Theaterzettel fiel. Was glaubst du, das sie spielten, Harry?«
»Ich sollte meinen: ›Der arme Kretin oder Blödsinn und Unschuld‹. Unsre Väter liebten diese Art Stücke, glaube ich. Je länger ich lebe, Dorian, um so stärker fühle ich, dass alles, was für unsere Väter gut genug war, für uns nicht gut genug ist. In der Kunst wie in der Politik les grand-pères ont toujours tort.«
»Das Stück, das da gespielt wurde, war gut genug für uns, Harry. Es war ›Romeo und Julia‹. Ich muss gestehn, ich war bei dem Gedanken, Shakespeare in so einem elenden Loche spielen zu sehen, ziemlich niedergeschlagen.