Nein, ich hatte es im Gefühl.
Sie würde hinauf zu Lammers Wohnung wollen, aus einem Grund, der die Polizei vermutlich noch um einiges mehr interessierte als mich − und den weder Rehfeld noch ich bis jetzt kannten.
Ich blickte hinab, sie blickte hinauf, aber sie sah mich nicht. Immer wieder drehte sie den Kopf, so als glaube sie, verfolgt oder beobachtet zu werden.
Wurde sie ja auch: von mir.
Doch das war sicher nicht der Grund für ihre Vorsicht.
Und dann verschwand sie unten im Eingang. Meine Vermutung hatte sich also bewahrheitet.
Ich ging in den Flur und dachte, gleich müsste ich sie das Treppenhaus hinaufklappern hören.
Sie trug Schuhe mit Absätzen, damit konnte man sich nicht leise hinaufschleichen.
Es dauerte nicht lange, bis ich sie tatsächlich hörte. Ich wollte schon die Tür öffnen und hinausgehen, aber im letzten Moment hielt ich inne.
Unterdessen hatte es die Frau gerade bis zum ersten Treppenabsatz geschafft.
Was sollte ich tun?
Einfach hinausgehen, sie anquatschen und ihr sagen, sie möge doch bitteschön so freundlich sein, sich bei der Polizei zu melden?
Wie kam ich dazu? Und wie würde sie reagieren?
Vielleicht genau so, wie bei unserer ersten, allzu kurzen Begegnung. Möglicherweise würde sie einfach auf dem Absatz kehrtmachen und wieder davonrennen.
Ich beschloss, erst einmal abzuwarten, ob sie wirklich hinauf zu Lammers Wohnung gehen würde.
In diesem Moment kam sie an meiner Tür vorbei, und dann trippelte sie die nächste Treppe hinauf. Ich wartete darauf, dass sie unverrichteter Dinge zurückkehrte, aber sie kam nicht.
Ich öffnete die Tür und ging hinaus ins Treppenhaus. Und dann lauschte ich, hörte aber nichts. Ich schloss meine Wohnungstür und ging dann auf leisen Sohlen die Treppe zu Lammers hinauf.
Oben angekommen, war von der Schönen nichts zu sehen.
Sie hatte sich einfach in Luft aufgelöst, und eine Sekunde lang glaubte ich schon, einer Fata Morgana aufgesessen zu sein. So etwas kommt ja vor.
Man ist von etwas so besessen, dass man Dinge sieht und hört, die gar nicht existieren, und sich irgendetwas einbildet, sich aus kleinen Versatzstücken der Wirklichkeit etwas zurechtlegt, das dann nichts als Erfindung ist.
Aber die junge Frau hatte sich keineswegs in Luft aufgelöst. Mein Blick fiel auf das zerstörte Siegel der Kripo.
Die Lady, der ich auf den Fersen war, befand sich in der Wohnung!
Jake McCord hätte jetzt an die Hüfte gegriffen, blitzartig seinen 45er aus dem Holster gerissen und dann mit einem kraftvollen Tritt die Tür geöffnet.
Ich ging da entschieden ziviler vor, schon deshalb, weil ich keinen 45er Colt an der Seite hatte. Vor allem war ich keineswegs scharf darauf, irgendwelche Reparaturrechnungen begleichen zu müssen.
So drückte ich also ganz einfach die Klinke herunter, machte auf, blickte in den noch immer völlig chaotischen Flur, und dann sah ich sie.
Ihr hübsches, fein geschnittenes Gesicht war bleich wie die Wand geworden. Fast so bleich wie das Gesicht von Lammers, als ich ihn in der Badewanne gesehen hatte. Aber sie hatte es besser.
Sie hatte sich nur zu Tode erschrocken, Lammers war tot. Ein nicht unbeträchtlicher Unterschied, den sie im Moment aber wohl nicht so recht zu würdigen wusste.
Sie machte ihren hübschen roten Mund erst auf und dann wieder zu. Und dann schluckte sie.
Und ich?
Jake McCord blieb so gelassen, wie es in dieser Lage nur möglich war.
Ich nickte ihr zu. "Tag", murmelte ich. "So sieht man sich wieder!"
Sie schien nicht zu begreifen. "Wer...?"
"Erinnerst du dich nicht?" Ich duzte sie einfach.
"Woran?", fragte sie unsinnigerweise.
Ich erklärte ihr: "Wir sind uns schon einmal begegnet. Eine Treppe tiefer vor meiner Wohnungstür. Du hattest es ziemlich eilig ..."
Sie atmete tief durch, und irgendwie machte es ganz den Eindruck, als sei ihr eine Zentnerlast vom Herzen gefallen. "Ja", sagte sie. "Ich erinnere mich."
"Hattest du mit jemand anderem gerechnet?"
"Wieso?"
"Es war nur eine Frage."
"Hör mal, ich ..." Sie brach ab und kam etwas näher. Ich blieb in der Tür stehen.
"Bist du eine Freundin von Jürgen Lammers?"
"Wieso?"
Auskunftsfreudig war sie jedenfalls nicht.
"Weil es einen Grund dafür geben muss, dass du in seiner Wohnung bist. Wie bist du überhaupt hineingekommen? Hattest du einen Schlüssel?"
"Was geht dich das alles an?"
"Eigentlich nichts, da hast du Recht."
"Na, also!"
"Trotzdem, es ist doch irgendwie merkwürdig, nicht wahr? Wir treffen uns hier schließlich in der Wohnung eines Mannes, der vor zwei Tagen ermordet wurde und dessen Wohnung von der Polizei versiegelt war. Die Polizei ist ganz wild darauf, sich mit dir zu unterhalten!"
Sie wollte etwas erwidern, aber dann wurde sie durch irgendetwas abgelenkt. Von unten aus dem Treppenhaus waren Schritte zu hören.
"Mein Gott ..." Sie flüsterte es so vor sich hin. Sie hatte Angst. Höllische Angst.
"Was ist los?", fragte ich unnötigerweise.
"Raus hier!", rief sie, und dann lief sie an mir vorbei. Zusammen stolperten wir die Stufen hinab, obwohl ich nicht die geringste Ahnung hatte, worum es hier ging.
Die Schritte von unten kamen bedrohlich näher.
Sie fragte: "Ist das deine Wohnung dort?"
"Ja."
"Dann mach auf! Schnell!"
Ich beschloss, erst einmal zu handeln und dann darüber nachzudenken, obwohl ich es eigentlich lieber anders herum halte. Manchmal kann man es sich eben nicht aussuchen. Ich drehte also den Schlüssel in meinem Schloss herum, und zwei Sekunden später war die junge Frau bereits in meine Wohnung gehuscht.
Gerade noch rechtzeitig.
Aus dem Augenwinkel heraus sah ich zwei Männer die Stufen hinaufhetzen. Der Erste, der die Treppe hochgestürmt kam, wirkte wie eine Kopie von Flash Gordon, dem unerschrockenen Sternenkämpfer und Feind aller intergalaktischen Fieslinge, bekannt aus Comic, Film und Roman-zum-Film.
Ich sah allerdings eine Version des Weltraum-Helden, die man offenbar einem zusätzlichen Bodybuilding-Programm und einer erfolgreichen Gehirnamputation unterzogen hatte.
Er war mindestens einen Meter neunzig groß, und seine hellblonden Haare waren kurz geschoren wie bei einem Fremdenlegionär. Aber seine hellblauen Augen leuchteten lange nicht so hellwach wie die von Flash Gordon. Sie waren trübe und wirkten stumpfsinnig. Sein Gesicht war rot angelaufen, und er keuchte wie ein belgisches Kaltblutpferd.
Durch den verzogenen Mund konnte man seine blitzenden Zähne sehen. Sie schienen noch alle da zu sein, zumindest die vordere Reihe, was bei einem wie ihm wohl nur bedeuten konnte, dass er stets als Erster zugeschlagen hatte.
Vielleicht trug er auch ein Gebiss.
Der Zweite war etwa ein Dutzend Stufen im Rückstand, und dieser Rückstand würde sich wohl eher noch vergrößern. Er hatte einfach nicht die Kondition,