Nachdem Jem den anderen berichtet hatte, was geschehen war, standen erst mal alle unter Schock.
Olivia war die Erste, die ihre Stimme wiederfand. »Was sagst du da, Connie tot?«
»Gerissen von einem Berglöwen«, flüsterte Katta. »Das muss man sich mal vorstellen.«
»Seit wann kommen diese Viecher denn in die Stadt?«, fragte Zoe. »Und dann diese unsichtbare Kreatur im Baum. Klingt nach einem echten Horrorfilm.«
»Die arme Lucie …«, sagte Arthur mitleidsvoll.
Jem nickte. »Vor allem, weil sie die ganze Zeit allein war. Aber jetzt ruht sie sich aus.«
»Ist das Beste, was sie tun kann«, meinte Zoe.
»Und bei euch so?« Jem sah seine Freunde aufmerksam an. »Irgendwelche Neuigkeiten?«
»Allerdings«, sagte Arthur. »Ich habe es den anderen extra noch nicht gezeigt, weil ich auf euch warten wollte. Aber nach dem, was ich jetzt gehört habe, ist es wohl besser, wir lassen Lucie schlafen.«
»Denke ich auch«, sagte Jem. »Was hast du denn rausgefunden?«
»Kommt alle rüber zu M.A.R.S., dann zeige ich es euch.«
Der Roboter stand etwas abseits unter einer Palme und rührte sich nicht. Arthur hatte ihn mit dem Holotalkie verbunden, das wiederum an den Laptop angeschlossen war. Eine komplizierte Konstruktion, die aber zu funktionieren schien.
Arthur setzte sich auf eine der Stufen, nahm den Laptop auf den Schoß und tippte ein paar Befehle ein. »So, dann wollen wir mal sehen«, sagte er und drückte die Enter-Taste.
Bzzz …
Ein grünes Licht zuckte auf, verdichtete sich über dem Display des Holotalkies, wurde größer und gewann an Konturen.
Jem runzelte die Stirn. Dann erkannte er, was es war. »Roderick!«
»Zu Ihren Diensten.«
Der kleine Bibliothekar drehte sich im Kreis.
»Oh, lauter bekannte Gesichter, wie schön. Aber was ist das für eine Umgebung? Ich kann mich nicht erinnern …«
»Du bist ein Download«, erläuterte Arthur. »Ich habe mir erlaubt, deine Programmdatei auf diesem Gerät zu installieren. Damit bist du nicht länger an die Bibliothek gebunden. Gefällt es dir?«
Der kleine Mann sah sich um, dann sagte er. »Das gefällt mir sogar sehr.«
»Das freut mich. Dank deiner Hilfe haben wir endlich Fortschritte gemacht. M.A.R.S. konnte die verschlüsselten Datensätze auf seine Festplatte übertragen und hat nun angefangen, sie zu dechiffrieren. Der Vorgang ist zwar noch nicht abgeschlossen, aber so nach und nach trudeln jetzt die ersten Informationen ein. Zum Beispiel sind wir auf die Aufzeichnung einer Nachrichtensendung vom 23. August 2035 gestoßen. Dem Jahr, in dem es passierte. Könntest du sie für uns abspielen?«
»Einen Moment …« Roderick löste sich auf. Auf dem Laptop erschienen Buchstabenfolgen.
… Accessing …
… Accessing …
Ein neues Hologramm tauchte auf. Nicht nur eine einzelne Person, sondern ein ganzer Raum. Jem ging näher heran. War das ein Nachrichtenstudio? Tatsächlich. Und da erschien auch schon Roderick als Nachrichtensprecher in Anzug mit Krawatte.
»Guten Abend, meine Damen und Herren, ich begrüße Sie zu News Today.« Jem sah, wie er sich über die holographische Darstellung einer Weltkugel bewegte. Das Bild zeigte die USA, den Golf von Mexiko, einen Abschnitt Mittelamerikas sowie die gesamten Südstaaten bis runter nach Florida. Ein gewaltiger Feuerball, den Roderick mit elegantem Hüftschwung umrundete, hing lodernd über dem Meer. Das Bild war eingefroren und stellte wohl die letzten Sekunden vor dem Einschlag dar.
»Ein kosmisches Ereignis von nie da gewesenem Ausmaß hält die Welt in Atem. Der Komet 69P/Nikka-Taketsuru – Beiname Thor – streifte heute Vormittag um zehn Uhr die Atmosphäre der Erde. Ein großer Teil der Hauptmasse löste sich und ging über dem Golf von Mexiko nieder. Das Feuerwerk war noch in dreitausend Kilometer Entfernung zu sehen.«
»Irre«, flüsterte Jem. Er war wie elektrisiert. Seine Handflächen kribbelten so, dass er sie in seine Hosentaschen stecken musste.
»Anstatt jedoch als fester Körper im Meer aufzuschlagen, explodierte der Komet und verteilte sein kosmisches Material über eine Fläche von mehreren Tausend Quadratkilometern. Menschen kamen wie durch ein Wunder nicht zu Schaden.« Roderick machte eine Vierteldrehung und das Studio veränderte sich. Das Bild vom Golf war verschwunden. Stattdessen hing jetzt ein unregelmäßig geformter Himmelskörper im Raum, der langsam um seine eigene Achse rotierte.
»Bei einem Kometen handelt es sich – im Gegensatz zu einem Meteoriten oder Asteroiden – nicht um einen homogenen Felsbrocken, sondern um das, was Wissenschaftler gemeinhin als schmutzigen Schneeball bezeichnen«, erklärte er und fuhr ohne Unterbrechung fort: »Eine Mischung aus felshartem Eis mit einem hohen mineralischen Anteil, die fast durchweg mit Schotter und lockerem organischem Material bedeckt ist. Die ersten wirklich gesicherten Daten über die Zusammensetzung und den Aufbau von Kometen erlangte die Wissenschaft im Jahre 2014, also vor nunmehr einundzwanzig Jahren, durch die Raumsonde Rosetta und ihren Vorbeiflug am Kometen Tschurjumow-Gerassimenko. Das Landefahrzeug Philae wurde auf die Oberfläche geschickt, mit dem Auftrag, Gesteinsproben zu sammeln und Messungen vorzunehmen. Die damals gewonnenen Erkenntnisse gaben der Kometenforschung einen beträchtlichen Auftrieb. So wurden sechzehn organische Moleküle nachgewiesen, von denen vier noch nie auf einem solchen Himmelskörper gefunden worden waren.«
»Habt ihr das gewusst?«, flüsterte Katta.
»Natürlich«, entgegnete Olivia mit hochgezogener Braue. »Du etwa nicht? Das war doch das große Thema damals im Fernsehen.«
»Nicht bei Germanys Next Topmodel«, entgegnete Katta schnippisch.
»Seid doch mal still«, zischte Marek. »Wenn es euch nichts ausmacht, würde ich das gerne sehen.«
Roderick war inzwischen beim Inneren des Kometen angelangt. »Grundsätzlich lässt sich feststellen, dass es sich bei Kometen um wahre Baukästen organischer Verbindungen handelt. Viele dienen als Ausgangspunkt für wichtige biochemische Reaktionen. Thor bildet da keine Ausnahme. Die These, dass das Leben einst von Kometen auf die Erde gebracht wurde, galt nach der Erforschung von Tschurjumow-Gerassimenko als gesichert. Doch was bedeutet der Absturz des Kometen nun für unsere Erde?«
Jem hing gespannt an den Lippen des kleinen Mannes. Es kam ihm vor, als würde Roderick den Auftritt sichtlich genießen.
»Um dieser Frage nachzugehen, schalte ich nun ins Hauptstadt-studio Washington, zu unserem Experten Dr. Willard Ash.« Roderick tippte in die Luft und sofort erschien das Bild eines angegrauten Mannes mit schütterem Haar, hinter dessen dicken Brillengläsern tiefe Tränensäcke lagen. Seine Schultern hingen leicht herab und er machte den Eindruck, als hätte er nächtelang nicht geschlafen.
»Dr. Ash, Sie gehören einer Gruppe von Klimaforschern an, die sich seit Jahren mit den Auswirkungen eines möglichen Kometenniedergangs auf das Weltklima beschäftigen. Nun ist es also passiert. Was wissen wir über diesen Kometen und was können Sie uns zu diesem frühen Zeitpunkt an Erkenntnissen liefern?«
»Ich grüße Sie«, sagte der Mann mit gepresster Stimme. »Nun, genaue Vorhersagen lassen sich zu diesem Zeitpunkt noch nicht treffen. Unsere Datenauswertung läuft selbstverständlich auf Hochtouren. Ganz allgemein müssen wir aber wohl davon ausgehen, dass sich das Weltklima in naher Zukunft ändern wird. Und zwar beträchtlich.«
»Weltklima, habt ihr das gehört?« Jem sah seine Freunde