Draußen dann brummte Breitenbacher missvergnügt: „Das wird immer schlimmer mit ihm. Ich glaube, das ist bald ein Fall für die Psychiatrie.“ .
„Hans“, sagte Ina besänftigend, „rede doch nicht so einen Quatsch! Ich weiß nicht, was ihm heute früh quer geraten ist. Vielleicht liegt es auch an seiner Frau. So etwas kann man doch mal hinnehmen.“
„Der Kollege Breitenbacher hat recht“, bemerkte Kiesewetter. „Es wiederholt sich in der letzten Zeit zu oft. Man kann es nicht mehr als normal bezeichnen. Dieser Mann isst, trinkt und raucht einfach zu viel. Er lebt hemmungslos und ebenso hemmungslos spricht er. Er sagt, was ihm gefällt.“ Ina war stehengeblieben und sah Kiesewetter an. Er war kleiner als sie und das schien ihn auch zu wurmen. Aber er sagte nichts.
„Herr Oberarzt“, erwiderte Ina auf seine Bemerkung, „alles, was Sie sagen, stimmt. Nur eines haben Sie vergessen. Er ist ein Genie. Und einem Genie kann man zugestehen, dass er ein paar Marotten hat. Keiner von uns dreien wird je seine Fähigkeiten erreichen, nicht in fünfzig Jahren. Und das sollten wir bei alldem auch nicht vergessen. So, meine Herren, ich muss mich um die Station kümmern.“
„Ich auch“, bemerkte Breitenbacher, nickte Ina und dann Kiesewetter zu und verschwand.
Kiesewetter ging noch ein Stück neben Ina her.
„Sie sind doch jetzt erst einmal aus dem Schneider, Herr Oberarzt“, erklärte Ina. „Wenn Sie zu diesem Containerschiff fahren.“
„Meinen Sie, das wäre ein Zuckerlecken? Sie kennen das doch. Am Ende hänge ich da wochenlang fest.“
„Vielleicht sind Sie nach zwei Wochen wieder da, vielleicht schon nach Tagen. So schlimm ist das doch nun auch wieder nicht. Wenn Sie wollen, kann ich es für Sie übernehmen.“
„Kommt nicht in Frage! Das ist keine Aufgabe für eine Frau.“
„So wie Sie die Frau sehen“, stichelte Ina.
„Wie meinen Sie das?“
„Ich meine es so, dass Sie zu denen gehören, die der Meinung sind, eine Frau gehört an den Herd, zu den Kindern, in Küche und Keller. Und allenfalls noch Sonntag früh in die Kirche. Habe ich nicht recht?“
„Sie wollen mich nur herausfordern“, brummte er.
Sie lächelte nur und stieß dann die Schwingtür zu ihrer Station auf. Kiesewetter ging zu den Fahrstühlen.
Nach einigen Schritten hatte Ina das Stationszimmer erreicht, aber dort kochte eine Lernschwester gerade Grießbrei.
„Wo ist die Stationsschwester?“ fragte Ina. „Ich meine Schwester Marita.“
„Auf 268. Da ist eine Nierenkolik. Doktor Preiß ist auch da.“
„Und die anderen?“, wollte Ina wissen.
„Alle drei beschäftigt. Uns fehlen ja zwei Schwestern, Frau Doktor.“
„Das ist mir bekannt“, entgegnete Ina knapp. Dann wandte sie sich ab und wollte ebenfalls zu Zimmer 268 gehen, als dort gerade der kraushaarige Dr. Preiß herauskam. Er war jünger als Ina, stand noch in der Facharztausbildung und wurde von den Schwestern und auch manchen Kollegen insgeheim Belmondo genannt, weil er eine weit entfernte Ähnlichkeit mit dem Schauspieler besaß. Ina ertappte sich selbst dabei, dass sie ihn, wenn sie an ihn dachte, mit seinem Spitznamen bezeichnete.
Sie hatten sich schon gesehen und Ina fragte sofort: „Was ist mit der Kolik?“
„Ex, Kreislaufversagen. Ich habe alles versucht“
„Sie ist tot?“, fragte Ina ungläubig; „Warum bin ich nicht gerufen worden?“
„Die Kollegin Grund war als Erste da und da ist sie wohl schon ex gegangen. Ich bin hinzugeholt worden; es war nichts mehr zu machen.“
„Das ist ja furchtbar!“
„Aber Frau Kollegin“, meinte Preiß, „die Frau ist immerhin über achtzig. In diesem Alter ist der Kreislauf ohnehin...
„Es hätte nicht passieren müssen. Wo ist Frau Grund jetzt?“
„Sie ist noch drinnen. Übrigens hatte Schwester Marita schon eine kreislaufstärkende Spritze aufgezogen. Frau Grund war der Meinung, dass die Dosis zu hoch sei und hat sie nicht geben wollen.“
„Aber diese Frau bekommt doch jeden Tag diese Injektion ... beziehungsweise hat sie die bekommen“, verbesserte sich Ina dann. Ich werde sofort nach der Patientin sehen. Kommen Sie ruhig nochmal mit, Herr Kollege.“
Preiß machte ein mürrisches Gesicht. Ina war bekannt, wie schwer er sich damit tat, sich einer Frau unterzuordnen, aber sie war nun einmal die Stationsärztin und hatte eine erheblich längere Praxis als er und damit auch die größere Erfahrung.
„Ich hätte gerufen werden müssen.“
„Irgendjemand hat es wohl auch versucht. Wir haben eine Lernschwester zum Chef geschickt, aber... “
Ina konnte sich schon fast denken, wie es dann weitergelaufen war. Götts Sekretärin musste ja die Brüllerei ihres Chefs in ihrem Zimmer gehört haben und hatte wohl die Schwester deshalb wieder weggeschickt. Aber richtig war das bestimmt nicht gewesen.
Für Ina bedeutete jeder Todesfall eine Niederlage, die sie sich sehr zu Herzen nahm. Es ging ihr nahe, wenn ein Patient dahingerafft wurde, wenn es der Medizin nicht gelang ihn zu retten. Und es interessierte sie wenig, ob die Wahrscheinlichkeit bei dieser alten Frau größer war, als wäre sie jünger gewesen. Für Ina war es gleichermaßen ein Schlag. In dieser Beziehung wurde sie nie abgebrüht.
Die blonde Dr. Hella Grund stand am Fenster und wandte Schwester Marita, die sich um die Tote bemühte, den Rücken zu.
„Hella“, sagte Ina, „wie konnte das passieren?“ Während Ina noch sprach, blickte sie auf den Nachttisch, wo die zur Hälfte gefüllte Injektionsspritze lag. Sie ging hin, nahm sie auf, ohne dass sich Dr. Hella Grund bis jetzt umgedreht hatte. Sie starrte immer noch nach draußen.
„Was ist hier drinnen?“ wandte sich Ina an Schwester Marita.
Die dunkelblonde junge Frau blickte auf, griff wortlos in ihre Kitteltasche und brachte eine Ampullen-Verpackung heraus.
Für Ina war es die Bestätigung, dass es sich um das Kreislaufstützungsmittel handelte.
„Hella, ich rede mit dir.“
Als müsse er sich noch einmal vergewissern, hörte Dr. Preiß die Tote ab. Aber es gab keinen Zweifel, in ihr war kein Leben mehr. Prüfend hielt er die Hand an ihre Carotis, an die Halsschlagader, seufzte dann und drehte sich zu Ina hin um. Aber die hatte keinen Blick für ihn übrig. Sie sah auf Hellas Rücken und erst jetzt drehte sich Hella Grund langsam um, blickte aus glänzenden Augen Ina an, schwieg aber. Sie hielt ihre Lippen zusammengepresst und Ina konnte sich vorstellen, was in ihr vorging.
Ina hob die Injektionsspritze hoch und sagte: „Wieso hast du das nicht gegeben?“
„Noch mehr quälen?“, fragte Hella Grund plötzlich. „Ich habe ihr etwas Anderes injiziert, eine Beruhigungsspritze.“
„Darüber reden wir an einer anderen Stelle“, entschied Ina. „Komm mit ins Arztzimmer. Dazu möchte ich etwas sagen.“
Hella Grund nickte nur, als habe sie nichts Anderes erwartet und ging auf die Tür zu, an allen vorbei.
Ina wandte sich Schwester Marita zu. „Wenn Sie hier fertig sind, Schwester, kommen Sie doch bitte auf einen Sprung zu mir. Ich bin jetzt im Arztzimmer. Und sollte wieder etwas sein... “
„Frau Doktor, wir haben nach Ihnen geschickt“, erklärte Schwester Marita. „Aber die Lernschwester ist zurückgekommen und...“
„Das erzählen Sie mir nachher. Ich habe erst mit meiner Kollegin zu sprechen.