15
Wenn Joachim sie um sieben Uhr abholte, bedeutete das, dass sie um halb sechs aufstehen musste. Um halb sechs! Sie konnte sich nicht erinnern, wann sie zum letzten Mal so früh aus den Federn gekrochen war. Ohne Wecker hätte sie das nie geschafft. Als dieses Höllending anfing, Krach zu machen, hatte sie gerade Streit mit Patrick und war ganz froh, geweckt zu werden, denn Patrick hatte ihr diesmal Bosheiten an den Kopf geworfen, die sie tief verletzt hatten.
Sie schluchzte sogar noch, als sie hochschreckte und total verwirrt um sich blickte. Ihr Herz raste, und es dauerte eine Weile, bis sie begriff, was heute für ein Tag war, weshalb der Wecker läutete – noch immer läutete – und was sie vorhatte.
Sie stellte den Wecker ab, indem sie die Hand auf ihn fallen ließ. Er verstummte. Das tat gut. Unausgeschlafen saß Sonja im Bett.
Sie schwankte hin und her und vor und zurück und wäre beinahe wieder in die Kissen gefallen, aber das durfte nicht sein, weil sie dann sofort wieder weitergeschlafen hätte. Gähnend warf sie die Decke zur Seite und schwang die Beine aus dem Bett. Mit halb gesenkten Lidern torkelte sie ins Bad. Eine Wechseldusche weckte ihre Lebensgeister und brachte ihren schlappen Kreislauf in Schwung.
Allmählich fing sie an zu leben, Mensch zu werden. Sie nahm sich für alles reichlich Zeit. Es wäre verkehrt gewesen, sich zu hetzen, und es war auch gar nicht nötig.
Fünfzehn Minuten vor sieben Uhr war sie fix und fertig. Joachim Aigers Wagen traf fünf Minuten vor sieben ein. Sonja verließ das Haus.
Joachim stieg aus – ein attraktiver Mann mit breiten Schultern und schmalen Hüften. Er war neununddreißig und damit zwei Jahre älter als Patrick.
Er war schon mal verheiratet gewesen. Seine Frau war vor acht Jahren bei einem Bob-Unfall in St. Moritz ums Leben gekommen. Sie hatte sich zu viel zugemutet, war im mörderischen Eiskanal zu schnell unterwegs gewesen, hatte die Herrschaft über das Sportgerät verloren, war aus der Bahn geflogen, gegen den Stamm einer alten Föhre gekracht und noch an der Unfallstelle ihren schweren inneren Verletzungen erlegen.
Kinder hatte das Ehepaar Aiger nicht gehabt.
Joachim trug enge helle Jeans, und im Ausschnitt seines roten Pullis bauschte sich eine elegante Schalkrawatte. „Guten Morgen!“, rief er fröhlich.
Sonja schloss die Haustür ab. „Guten Morgen.“
Joachim eilte zu ihr und küsste sie auf beide Wangen. „Ausgeschlafen?“
„Sehe ich so aus?“
„Du siehst phantastisch aus“, erwiderte Joachim begeistert.
Sonja schmunzelte „Daran habe ich auch sehr lange gearbeitet.“
Er trug ihr Gepäck zum Wagen und legte es in den großen Kofferraum. „Einsteigen. Gurt anlegen. Es geht los.“
In gemütlichen drei Stunden erreichten sie ihr Ziel. Das Kitzsteinhorn war wolkenverhangen, aber die Loferer Steinberge strahlten in hellgrauer, karstiger Pracht.
Nachdem sie ihre Suite bezogen hatten, trat Sonja auf den großen Balkon und ließ das herrliche Panorama auf sich einwirken. Joachim schlang von hinten seine Arme um sie.
„Gefällt es dir hier?“, fragte er leise in ihr Ohr.
„Ach, Joachim, dieser Ausblick ist traumhaft schön“, antwortete sie beeindruckt.
„Ich habe schon viele schöne Plätze auf der Welt gesehen – der hier gehört dazu, deshalb komme ich auch immer wieder hierher.“
„Mit wechselnden Partnerinnen“, sagte Sonja.
„Ich bin nicht gern allein. Wer kann mir das verübeln?“
Sie drehte sich in seiner Umarmung um und lächelte ihn an. „Niemand.“
Er küsste sie. Ihre Lippen waren weich und warm. „Was unternehmen wir heute?“, fragte sie,
„Ich schlage vor, wir fahren hinauf zu den Stauseen.“
„Einverstanden“, sagte Sonja.
Den Rest des Vormittags benutzten sie zu einem kleinen Spaziergang im Ort. Sie aßen in ihrem Hotel, und anschließend fuhren sie zu den Stauseen hoch. Es wurde ein erlebnisreicher Nachmittag, und Sonja und Joachim kamen einander so nahe, wie sie es bisher noch nie gewesen wären.
16
Herr und Frau Kasparek waren weggegangen, Iris und Jasmin waren allein im Haus und hörten Schallplatten. Jasmin Kaspareks CD-Sammlung konnte sich sehen lassen.
Sie hatte zwei Brieffreundinnen – eine in London, die andere in Los Angeles. Von ihnen bekam sie immer die brandheißesten Neuerscheinungen geschickt, lange bevor man sie in München kaufen konnte.
Jasmin lobte die neue Prince-Scheibe in den höchsten Tönen, bevor sie sie in den CD-Player einlegte, doch Iris konnte sie sich nicht anhören.
Sie stand auf, ganz grün war sie im Gesicht. „Mir ist schlecht“, sagte sie und rannte aus dem Zimmer.
Jasmin hörte sie im Bad würgen. Sie stoppte die CD. Als Iris nach fünf Minuten zurückkam, sah sie elend aus. Käsig, eingefallen, matt.
Jasmin sah die Freundin besorgt an. „Was ist mit dir?“
Iris hob die schmalen Schultern. „Ich weiß es nicht.“
„Hast du dich übergeben?“
Iris nickte und fuhr sich mit zitternder Hand über die Stirn. „Ja.“
„Hast du irgend etwas nicht vertragen?“
Iris schüttelte den Kopf. „Das Essen war in Ordnung.“
„Du hast gegessen wie ein Spatz“, stellte Jasmin ernst fest.
„Ich hab’ zur Zeit wenig Appetit“, sag Iris.
„Du bist schon ganz mager. Nur noch Haut und Knochen bist du. Du musst dich zwingen, mehr zu essen.“
„Das hat wenig Sinn“, erwiderte Iris. „Wenn ich mehr esse, kommt bloß mehr hoch.“
„Brichst du nach jeder Mahlzeit?“
„Nicht nach jeder, aber doch sehr häufig“, antwortete Iris ehrlich. „Ich bin müde. Ich möchte mich hinlegen.“
„Klar.“
„Es geht mir gleich wieder besser“, versprach Iris und legte sich