Ich halte das nicht aus!, schrie es in ihm. Herr im Himmel, hilf mir! Ich wollte nie wirklich sterben, das weiß ich jetzt! Ich bitte dich! Ich flehe dich an, steh mir bei! Wenn du mir hilfst – nur noch dieses eine Mal – werde ich mich ändern! Ich verspreche es! Ich schwöre es!
Eine unvorstellbare Angst raste in immer neuen Wellen über ihn hinweg. Die Wirkung der ersten Kapsel war gleich Null. Sollte dieser schreckliche Anfall wirklich mit seinem Tod enden? Seine Kehle war zugeschnürt, die Beklemmung wurde immer unerträglicher, und in seiner Brust tobte ein wilder, krampfartiger Schmerz. Noch eine ... Kapsel ... Ekel würgte ihn, als der bittere Geschmack neuerlich seinen Mund erfüllte. Der Schmerz zog peinigende Kreise.
Er griff nach allen Seiten gnadenlos um sich, versuchte Thomas’ ganzen zitternden, schweißnassen Körper in seinen Besitz zu bringen.
Der Schmerz wurde größer. Thomas’ Herz war eine große, brennende Wunde, in der sich eine glühende Fräse drehte. Eine furchtbare Schwäche überkam ihn. Er konnte nicht mehr kämpfen, musste sich geschlagen geben. Aus ... Vorbei ... Totale Entkräftung ... Alles war verloren ... Schwärze – über ihm, ringsherum, überall, auch in seinem Geist. Er konnte nicht mehr denken, nicht mehr fühlen. Es war überstanden.
9
Sie machten nach dem Essen einen kleinen Spaziergang. Sven hatte seinen Arm um Solveig gelegt, und sie schmiegte sich an ihn. Es war ein stiller, friedlicher Abend.
Der Flügelschlag einer Eule war zu hören.
Solveig zog die frische würzige Luft tief ein und seufzte: „Ach, Sven, könnte es nicht öfter so schön sein?“
Er blieb stehen und betrachtete sie lächelnd. „Höre ich da ein wenig Unzufriedenheit heraus?“
Solveig schüttelte leicht den Kopf. Der dunkle, dichte Wald befand sich hinter ihr. „Nein, ich bin nicht unzufrieden“, sagte sie. „Ich habe ein sehr erfülltes Leben, einen Beruf, der mein Selbstwertgefühl hebt, genügend Geld, um mir diesen und jenen Wunsch ohne Reue erfüllen zu können. Ich liebe einen gutaussehenden, wunderbaren Mann und ich spüre, dass er meine Gefühle aufrichtig erwidert.“
„Was fehlt dir dann?“, fragte Sven Kayser.
Solveig seufzte erneut. „Ach, eigentlich überhaupt nichts.“ Sie lächelte verlegen. „Vergiss, was ich gesagt habe, es war nicht ernst gemeint, war nur so dahergeredet. Ich bin eine beneidenswert glückliche Frau, und du trägst unheimlich viel zu diesem Glück bei. Dafür möchte ich dir danken.“
„Wie denn?“, wollte Sven schmunzelnd wissen.
„So“, sagte Solveig, wippte auf die Zehenspitzen, nahm sein Gesicht zwischen ihre schlanken Hände und küsste ihn zärtlich auf den Mund.
Sven reagierte sofort auf den Kuss. Er erwiderte ihn mit der gleichen Intensität, umarmte Solveig innig und drückte sie fest an sich. Der Duft, der ihm aus ihrem seidigen Haar entgegenwehte, war betörend.
„Nachdem ich meinen Mann verloren hatte“, flüsterte sie, „dachte ich: Nun ist das Leben für dich gelaufen, du wirst nie wieder lachen, nie wieder fröhlich sein, nie wieder glücklich sein, nie wieder lieben. Ich habe mich geirrt. Ich bin heute glücklicher, als ich es je in meinem Leben war – mit dir.“
„Und ich bin glücklich mit dir. Mein Leben war leer, bevor wir uns begegneten.“
„Das kann ich nicht glauben.“
„Wieso nicht? Es ist wahr.“
„Du warst immer schon ein sehr attraktiver Mann – von den Damen sehr begehrt.“
„Na ja, ich war nicht allein aber manchmal doch sehr einsam. Man kann auch zu zweit einsam sein.“
„Ja, das stimmt, diese Erfahrung habe ich auch gemacht. Man ist mit einem Menschen zusammen und spürt nichts weiter als Leere um sich und in sich.“
„Weil man eben zum Glücklichsein den richtigen Partner braucht – und nicht irgendeinen.“
„Ich bin dem Schicksal sehr dankbar dafür, dass es mir geholfen hat, ihn zu finden.“
„Mir geht es genauso.“
Sie küssten sich abermals und gingen dann, eng umschlungen wie ein frisch verliebtes Pärchen, weiter. Sven schlug eine Fahrt zum Chiemsee am kommenden Wochenende vor.
„Wir könnten segeln, wandern, es uns gutgehen lassen“, versuchte er Solveig die Idee schmackhaft zu machen.
„Hört sich verlockend an“, gab die aparte blonde Frau zu.
„Heißt das, du kannst dich frei machen?“ Erwachende Freude schwang in Svens Stimme mit.
Er bekam einen ihrer ernüchternden Seufzer zu hören. „Ach, Sven, es gibt nichts, was ich lieber täte, als mit dir ein Wochenende am Chiemsee zu verbringen.“
„Aber?“, fragte er mit gefurchter Stirn.
„Am Freitag wird ein Bus voller Franzosen angekarrt, um die ich mich kümmern muss. Ich kann beim besten Willen nicht weg“
Nun seufzte Sven. „Schade.“
Solveig sah ihn von der Seite unsicher an. „Bist du jetzt böse?“
„Warum sollte ich böse sein?“ Er zwang sich zu einem Lächeln. „Unser Beruf geht vor, das ist doch klar. Nein, ich bin nicht böse, nur ein bisschen traurig.“
„Es kommen ja noch andere Wochenenden“, tröstete ihn Solveig.
„Sicher“, nickte Sven. „Sicher.“ Aber dann würde wahrscheinlich er unabkömmlich sein, und wenn er dann endlich wieder Zeit hatte, würde Solveig irgendetwas Unaufschiebbares Vorhaben – und so würde die warme Jahreszeit zu Ende gehen und der Chiemsee zufrieren.
Aber war das denn wirklich so wichtig, mit Solveig zum Chiemsee zu fahren? Es war doch auch hier in München sehr schön mit ihr. Hauptsache sie waren zusammen. Wo – das war eigentlich von nebensächlicher Bedeutung.
„Ich würde mich freuen, wenn du heute Nacht bei mir bleiben würdest“, sagte Solveig mit sanfter Stimme.
Sven schmunzelte. „Ich hatte nicht vor, dich zu verlassen.“
„Ist es nicht wunderbar, dass wir in so vielen Dingen völlig übereinstimmen? Wir fühlen das Gleiche, wir denken das Gleiche, wir wünschen uns das Gleiche.“
Sven strich ihr sanft übers Haar. „Das ist ganz normal bei Menschen, die sich so gut verstehen wie wir beide.“
Sie kehrten zum Waldhotel Abel zurück. Einer von Solveigs Angestellten stürzte ihnen verstört entgegen. „Frau Abel! Herr Dr. Kayser!“
„Um Himmels Willen, was ist passiert?“, stieß Solveig atemlos hervor. „Einer unserer Gäste ... Herr Winter ... Ein schwerer Herzanfall ... Ich glaube, er stirbt ...“