Jetzt kommt mir gerade der Gedanke, wie es denn wohl um den Diebstahl bei den Künstlern bestellt wäre und wie dieser einzuschätzen.
Sollte ich vielleicht aber besser übergehen, im Moment, glaube ich.40
Wir standen da also immer noch vor dem Haus, mit dem Bettler davor, den Grafitties am Sockel und der nicht mehr ganz dichten Haustür, und die Tante missbilligte still vor sich hin, während ich ihren Nacken betrachtete mit der winzigen Warze darauf. Just in diesem Moment kam ein Radfahrer vorbei, um das Bild zu vervollständigen (oder auch nur zu ergänzen), sozusagen; selbstredend im pas-senden Kostüm. Überhaupt machen die Leute heute ihren Kram ja nur noch im passenden Kostüm. Radfahren. Wandern. Ins Büro gehen. Wandern mit Wanderschuhen, Wanderstrümpfen mit Wandermustern, Wanderrucksäcken, Wandermützen. Hier und da wollen wir’s ja gern durchgehen lassen: so beim Tauchen zum Beispiel. Aber sonst? Nicht vorzustellen, die Menschen würden das ein-mal austauschen – sei es aus Spaß, aus Fahrlässigkeit oder Unachtsamkeit –, und dann z.B. selbzwanzig im Radfahrerkostüm mit Radfahrerstrümpfen, Radfahrerschuhen und vor allem den so kleidsamen Radfahrerhelmen werktagsüber in einem Büromeeting hocken, präsidiert vom Geschäftsführer, allein dieser in seinem Businesskostüm mit den glänzend-schwarzen Businessschuhen, dazu passenden Businesssocken, dem Businessanzug über dem feinen Businesshemd, der Businesskrawatte mit Businesskrawattennadel, Businessuhr, Businessgesicht. Ob die den nötigen Businessernst die ganze Zeit über bewahren könnten? (Umgekehrt wäre es natürlich noch schöner: alle im feinen Zwirn, nur der Boss trägt bikerdress.)
Alles fest im Griff der Outfitbranche. Nur die Angler sind bisher vergessen, eine schmerzliche Lücke. Vielleicht für beide, für die Angler und die Outfitbranche. Dabei bräuchten doch gerade sie dringlichst die Angleranzüge mit den langen Anglertaschen für die Anglerruten, den innen auswaschbaren Täschchen für die Anglerwürmer, dem Nadelkissen für die Anglerhaken, der am Bein aufgenähten Zentimeterskala fürs Messen des Angelfangs und so weiter. Ich bin einmal an dem Teich, um den ich immer laufe, in meinem Joggerkostüm an mindestens dreizehn Anglern41 vorbeigelaufen, es muss irgend ein besonderer Tag gewesen sein, denn normalerweise angelt sonst dort wirklich niemand und es gibt auch nicht sehr viel zu angeln, was man sowohl den Anglereimern als auch den Anglergesichtern sehr wohl ansah, aber sie saßen dort mit ihrer Anglerdisziplin die ganzen acht oder zehn Runden lang – also meine Runden, nicht ihre –, hielten Anglerdistanz und führten nur ganz selten ein leises Anglergespräch. Ich habe sie wirklich fast bedauert, die Angler, wie sie da ihren Krimskrams und ihr Werkzeug in allen möglichen zweckentfremdeten Kistenkasten aufbewahrten, Marmeladengläsern etwa und Keksbüchsen. Ein wirklich bedauernswert vernachlässigter Freizeitzweig. Und eine unglaublich verpasste Chance der Outdoor-Equipmentbranche, dachte ich und betrachtete weiter Tantchens Nacken. Der Radfahrer war hurtig davon, wie so mancher Gedanke.
Ich bin ja gar nicht so gerne mobil und verbringe die Tage lieber im Sitzen (noch besser im Liegen) als im Stehen, Gehen oder gar Radfahren. Höchstens einmal in der Woche breche ich auf zu einem Gang durch die Stadt, begutachte ihren Zustand. Ich denke, das steht mir nicht mehr und nicht weniger zu als jedem anderen oder dem Bürgermeister und was weiß ich. Es ist um sie nicht zum Besten gestellt, ich fürchte, ich muss es so sagen.
Häuserfassaden bröckeln und weisen Risse auf. Auf den Wänden, an Zäunen kleben hie und da noch die Kandidaten einer zurückliegenden Wahl, natürlich sehen sie irgendwie traurig aus. Nein, nicht die Kandaidaten selbst kleben. Die Abbildungen. An den Laternenpfählen hingegen stößt man auf sogenannte Spuckzettel, die meist sehr noblen Gesinnungen Ausdruck geben, wenn auch nicht immer in sehr vornehmer Sprache. Im Gehsteig fehlen leider öfter Steine, besonders, wenn dieses Basaltkleinpflaster verwendet wurde, das so hübsch aussieht und das ich sehr mag, aber nur, wenn es noch etwas vollständiger ist und nicht von Kräutern überwuchert, die in den Ritzen siedeln. Blumen kümmern in Waschbetonkübeln. Kaugummiflecken und Zigarettenkippen zieren das Trottoir, Unrat vieler Arten liegt umher. Die überfüllten Abfallei-mer sind mit dem teilweise zerfetzten, teilweise verblass-ten Aufkleber »Haltet unsere Stadt sauber« versehen (»unsere« ist ja nun auch mehrdeutig; besser wäre vielleicht »Eure«). Manchenorts lädt eine kleine vernachlässigte Grünanlage oder ein schmutziger Spielplatz ohne Kinder zu allem Möglichen ein, nur nicht zum Verweilen.
Einige alte Gebäude hat man im Erdgeschoss mit Plastikfassaden verstellt, verkleidet, umstellt, umkleidet, ich weiß nicht, auf jeden Fall passt es nicht zu ihnen, eigentlich wollen sie nicht »modern« sein: aus den daraus vorlugenden, dahinter versteckten oder untergebrachten Geschäften blicken Verkäufer mit leeren angstvollen Augen hinaus und hoffen auf Kundschaft. Man weiß eigentlich gar nicht: schauen jetzt die genuinen Ladenbesitzer verzweifelter, für die diese Boutique letztendlich das Grab ihrer Ersparnisse darstellen könnte, oder sind es die gestylten aber billigen Verkäuferinnen der Kettenläden mit ihrem Zeitvertrag oder der Hoffnung auf Aufstockung von Halbtags- auf Ganztagsjob, die wilder auf jeden Passanten gieren, der sich zum Käufer wandelt und so die Ladenschließung vielleicht noch ein paar Tage oder Wochen vermeiden hilft? Ein bisschen ähneln sie auf jeden Fall Raubtieren, die die Antilopen an der Wasserstelle belauern.
Natürlich finde ich bei meinen Gängen viele Läden auch überhaupt ganz leer vor, entweder schon seit Monaten oder Jahren, oder immer wieder kurzfristig, oder eben einfach so. Die Zeit zwischen dem frohgemuten und hoffnungsvollen Bezug eines Ladenetablissements bis zum deprimierten Verlassen unter Hinterlassung von Ladenschild, Teilen der Einrichtung, verlorenem Kapital, wird immer kürzer. Dann vermehren sich wieder eine Zeitlang die Graffitis an Sockel, Wand und Tür, dann sieht man häufig zerbröselte aber vormals verlockende, ja reißerische Plakate von längst stattgefundenen aber vermutlich großartigen Veranstaltungen an den Scheiben, aber auch an den an ihrem unteren Rand begeistert von Hunden beschnüffelten42 Verteilerkästen.
Insofern die Läden zur Zeit mit Waren ausgestattet sind, preisen sie die unglaublichsten Überflüssigkeiten zum Kauf an, locken für ihre billigen Fummel mit den ausgesuchtesten erotischen Verlockungen oder lassen die unwahrscheinlich günstigen Preise für die Massenprodukte, die in aller Welt von billigen Händen zusammengesetzt werden, für sich selbst sprechen. Geheimnisvolle aber faszinierende Labels und Logos erwecken den Eindruck solidester Qualitäten von jahrzehntelang der Kundschaft verbundenen, allerersten Lieferanten.
Auf der Straße, teils flanierend und der Verführung der Warenangebote sich bewusst oder lässig aussetzend, teils einem fernen Ziele energisch zustrebend, teils lethargisch einen Fuß vor den anderen setzend, Arme, Reiche, Hunde, Penner, Bettler, dicke Kinder, Alte, Junge, Tauben, schwerbeladene Boten, schwerbeladene Kunden, schnieke Handelsvertreter, sich auf ihren nächsten Besuch vorbereitend, giggelnde Mädchen, blasierte Schönheiten43, männliche Männer44, blass-dickliche Männer, vielfältige weitere Arten Mensch & Tier.
Restaurants bieten ausländische Spezialitäten; auch ich selber – daraus mache ich gar kein Hehl – bevorzuge ausländische Kost, trotzdem fehlen mir die einheimischen Gaststätten im Weichbild, auch, wenn ich sie seltener bis nie besuchen würde. Das mögen Sie jetzt für ein merkwürdiges Argument halten, aber so ist es nun einmal. Es ist überhaupt eine etwas eigenartige Sache mit den ausländischen Restaurants. Das ist so ein Prozess gewesen, den ich gewissermaßen über die ganze Zeit hinweg beobachten durfte, er weist eine für mich erfreuliche Konkordanz mit meiner Lebenszeit auf. Als ich ein kleiner Junge war, gab es sie ja nicht, oder sie waren etwas ganz Besonderes (ich glaube, damals existierten in einer veritablen Großstadt gerade einmal ein (1) Jugoslawe und ein (1) Chinese). Dann vermehrten sie sich. Sie vermehrten sich wie die Karnickel. Überall wuchsen sie gewissermaßen aus dem Boden: Italiener, Jugoslawen, Griechen, in den 80er Jahren dann der Boom der Chinesen, an jeder Ecke gab es zeitweise einen Chinesen, in jedem Dorf. Hie nannten sie sich chinesisch-vietnamesisch, da chinesisch-thailändisch oder chinesisch-koreanisch, in allen denkbaren