Bei Musicalbettler muss ich an den Musicalclown denken. Sagen Sie, ist es Ihnen nicht auch immer so erschienen, als sei der kleine feiste hässliche im Ensemble derjenige, der sich die ganzen Gags ausgedacht hat? Und der schöne strahlende mit den Pailletten auf dem Wams, der so wunderbar auf der kleinen silbernen Geige spielen kann oder auf der polierten Posaune, als sei der von dem kleinen Hässlichen engagiert und angelernt worden? Mir war das immer klar, schon als ich das erste Mal im Zirkus war.18 Das war Hagenbecks Zirkus. Den gab es damals noch. Ich glaube, heute ist er längst untergegangen, wie auch Sarrasani selbstverständlich. Das hat mir auch so einen Stich ins Herz versetzt, als ich über den Konkurs von Sarrasani gelesen habe. Natürlich hat mich auch die Liquidation des DDR-Staatszirkus getroffen, aber der kam doch nicht an Sarrasani heran! Oder schrieb man es Sarasani?
Mit dem VEB Staatszirkus war es natürlich noch eine ganz andere Geschichte, aber die hat ja schon Fritz Rudolf Fries aufgeschrieben, teilweise. (Wussten Sie, dass es in der DDR ungern gesehen, ja wohl zeitweise geradezu verboten war, die Vokabel »Staatszirkus« zu verwenden, wegen der allfälligen Assoziationen?)
Natürlich fällt mir bei Bettlern auch immer Mr. Peachums Geschäft ein. Nun ist Frau Elisabeth Hauptmanns und ihres Mitarbeiters Sichtweise ja so, dass einerseits der Bettler präsentiert wird als Proletarier, also durchaus noch des Ausgebeutetseins fähig ist und darum seinerseits natürlich Standesbewusstsein und Professionalität entwickelt, tendenziell die Opferrolle verlässt und Täter wird (letzteres ist allerdings nicht allzu deutlich herausgearbeitet, aus verständlichen, ideologischen, Gründen), andererseits die Rolle des Gebenden, des Kunden also, nur ganz am Rande gestreift wird. Das kann man als ganz typisch für diese produktionslastige Sichtweise der Linken ansehen, die immer den Kunden und damit den Markt zu wenig würdigt, und wenn, dann auch wieder nur als Opfer. Peachums Bemühungen erscheinen dem Leser geradezu als grandioser Betrug, als die Unterhaltung einer bombastischen Fälscherwerkstatt. So kann man natürlich fast jedes bedeutende Unternehmen denunzieren.
Überhaupt hat der Handel ja viel mit dem Bettel zu tun, was dann in der epischen Version des Stoffes auch herausgearbeitet wird, und in diesem Fall sehr profund (hier hat der Stückeschreiber übrigens mit Frau Steffin zusammen gedichtet, Frau Hauptmann war ihm zeitweise abhanden gekommen). Schon der Standort, die Straße, ist ein nicht unwichtiges Signal, dass hier Verwandtschaften wirken. Versandhandel hat sein Pendant im professionellen postalischen Betteln der Wohltätigkeitsorganisationen. Ich habe einmal eine namhafte Spende an einen solchen Verein gegeben und erhalte seither immer wieder, vorzugsweise zu Weihnachten, Bittbriefe von einer großen Anzahl mildtätiger Vereine. Den diesbezüglichen Adressenverkauf kann man durchaus mit dem Markieren der Türen durch Bettlerzinken vergleichen.
Ich weiß wovon ich rede! Junge, hat meine Tante immer gesagt, damals, als ich nämlich noch als Handelsvertreter gearbeitet habe, Junge, das ist doch kein Beruf, das ist doch nur eine Verkaufstätigkeit. Das letzte Wort ließ sie in ihrer Sprachmelodie in der zweiten Silbe ungefähr um eine übermäßige Quinte absinken, was Geringschätzigkeit ausdrücken sollte. Hoffentlich vorübergehend? schloss sie dann gleich an, und ich nickte schnell und bereitwillig.19
Die Griechen aber, so denke ich, hatten durch die Mehrfachzuständigkeit ihres Gottes Hermes den Handel eher dem Stehlen gleichgesetzt. Stehlen gilt ja doch wohl als ehrenwerter denn Betteln, nicht wahr? Zumindest verlangt es eine überlegenere Organisation, und in vielen Fällen auch arbeitsteilige Vorgehensweise, das Vorhandensein bzw. die Beschaffung von Kapital u.v.m. Auch die Sache mit der Harfe oder Lyra fand ich immer prima, und so typisch: Hermes hatte das Instrument flugs erfunden, aus einem Schildkrötenpanzer mit Saiten bespannt gebastelt (…mit Bonbons gefüllt)20, aber dann stahl er seinem Bruder Apollon eine Herde, und als Vater Zeus schließlich diesen Streit (wieder mal, wie so viele in seinem nun weiß Gott auch nicht leichten Leben) schlichten musste, ward gerechterweise die Herde, ungerechterweise aber auch das Instrument21 Apollon zugesprochen. Und nicht Hermes preist man seither als Erfinder der Musik, sondern sein zugegebenermaßen ebenfalls einfallsreiches Brüderchen. Zum Beispiel erbte Hermes von diesem ja einen Stab, mit dem er – wen er möchte – in tiefen Schlaf versetzen kann. Und das ist ja wohl ein Instrument, das sich sowohl Diebe wie Handelsleute für ihre jeweiligen Opfer inniger wünschen als irgendeine Klimperkiste. Also Entwurf, Budget, Schaltplan und allem wieder bei ihm zu sein. Als ich sein Café verließ, stolperte ich auf der Treppe und stieß mir ziemlich schmerzhaft ein Bein an. Später, als ich über den Traum nachdachte, fiel mir ein, was mir da zugestoßen war. Eigentlich schätze ich nämlich an diesem Bäcker, dass er so ganz und gar nur gute Backwaren macht ohne dafür zu werben, im Gegensatz zu den Großbäckern, die schlechte Backwaren machen und sie mit hohem Geschick erfolgreich vermarkten. Ich merkte, dass ich mir in dieser Rolle überhaupt nicht mehr gefiel, wie ich ihm da anriet, es auch so zu machen wie die anderen und damit den Typ Bäcker, den ich eigentlich selbst an ihm schätzte, sozusagen zu verraten. Ich war ein Anstifter zum Selbstverrat. Also wieder: besser wärst du nicht mehr in diesem Geschäft tätig. diese Nachbarschaft von (Diebes)kunst und Handelsbrauch (und der Fähigkeit den Partner in Hypnose zu versetzen) wäre und ist mir immer schon höchst interessant erschienen. Man denkt doch gleich an Herrn Hood aus dem Sherwood Forest, den ehrlichen Dieb & Diebstahlkünstler; auch aber an diese schmale Brücke, die den ehrlichen Dieb und ehrbaren Kaufmann voneinander trennt – miteinander verbindet – ach Gott, was rede ich da22 – aber eine interessante Triole sind diese drei ja nun doch: Dieb, Künstler und Händler. Meine Tante wusste wenig von antiken Göttern und war auch des Griechischen nicht fähig. Gott sei Dank, vielleicht. Nein, nicht mächtig sagt man wohl.
(Damit wurde jetzt endlich einmal ein lohnendes Thema angeschnitten, leider aber nicht im Geringsten befriedigend ausgeführt, werden Sie denken. Vielleicht müssen Sie sich an solche Vorgehensweise des Autors erst noch gewöhnen.23 Manchmal kommt er im Übrigen noch später auf liegen gelassene Fährten zurück.)
Nun müssen Sie nicht glauben, diese Leute – also die Bettler, um Ihnen einzuhelfen – säßen tagein tagaus vor meinem Haus, aber es kommt bisweilen eben vor, und an jenem Tag, dem der Vorführung des Hauses für die Tante, war es ausgerechnet auch so. Bei der Tante jedenfalls bewirkte das so ein weiteres Mal in seiner Anmutung herabgesetzte Hausesäußere eine gewisse Missstimmung, so schien es mir.
Dabei ist das Gesindel ja überall. Es sitzt auf der Straße, läuft am Haus vorbei, es wartet in der Stadt, bettelnd oder wachsam. Bettelnd und wachsam. Bettelnd und stehlend. Das Gesindel kennt sich gut aus, es schlägt sich nur durch, weil es die Schlupfwinkel findet, die kleineren Gaunereien beherrscht, stets auf dem Sprunge ist, das Gesindel kennt die Regeln, obwohl es sie ignoriert, ja auf sie scheißt, aber so geht das.
Das Entscheidende ist überhaupt, dass man die Re-geln kennt und auf sie scheißt. Es ist ja unbestritten immer weniger Leuten vorbehalten, in geregelten Verhältnissen leben zu dürfen. Die meisten schlagen sich so gerade durch (»Der HErr24 ist mein Hirte / Mir wird nichts mangeln«25). Gesetzt, diese Leute müssten auf die Einhaltung der Regeln verpflichtet werden: schier verhungern hieße das für sie. Und die andern erst recht: wer etwas werden will, bedarf doch gerade der heilsamen Fähigkeit, sich über die offiziell existierenden oder besser niedergelegten Usancen hinwegzusetzen. Er muss, und das wird ihn adeln, in seinen Kreisen geradezu darauf hinweisen können, dass er wohl wisse, wie es eigentlich gemacht werden soll, dass er also wohl auch wisse, dass es nicht so gemacht werden kann, wie die üblichen Regeln für die Plebs es bestimmen. Aber die Plebs hat – mittlerweile, unglücklicherweise – diese Regeln für sich ja auch außer Kraft gesetzt. Auch die Plebs könnte, beherrschte sie nur diese göttlich-herablassende Ausdrucksweise, darauf hinweisen, dass sie wohl weiß, dass das, was sie da so tut, nicht gut ist und nicht den Herrn Kant erfreuen würde. In Bezug auf die Einhaltung seiner Regel. Dieser besonderen Regel, die der Herr Helmut Schmidt immer so gern zitiert hat. Das muss wohl damals noch irgendwie eine andere Art Welt gewesen sein.26 Heute interessiert so was keine tote Fliege mehr.
Stubenfliegen, letale27, scheinen ja interessanterweise gar nicht zu stinken. Im Gegensatz, beispielsweise, zu Bettlerhunden. Vielleicht stinkt die gesamte Species der Insekten überhaupt nicht. Oder es kommt uns nur so vor, weil bei uns in Mittel- oder Westeuropa die menschlichen