Für Astrid
Günter Rippke
DER FINNISCHE KRIEGER
Roman
Handlung und Personen des Buches sind frei erfunden. Die verwendeten wissenschaftlichen Fakten und die damit verbundenen Namen sind Allgemeingut.
Einige spezifische wissenschaftliche Ausführungen sind mit freundlicher Genehmigung entnommen aus: Stewart, Ian: „Weltformeln“, Rowohlt Verlag (2014) und Petrick, Fritz: „Rügens Finnischer Krieger“, Rugia Rügen-Jahrbuch (2016).
© Günter Rippke 2020
Titelfoto und Umschlaggestaltung: Günter Rippke (unter Einbeziehung einer historischen Karte Rügens von Eilhard Lubin, 1608)
Verlag und Druck: tredition GmbH, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg
ISBN
978-3-347-08982-2 (Paperback)
978-3-347-08983-9 (Hardcover)
978-3-347-08984-6 (E-Book)
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.
Inhalt
FALDERA
GRANITZ
VEIT
BLIESCHOW
JON
EVI
HENNING
DER FINNISCHE KRIEGER
ANDROMEDA
DANK
FALDERA
Josef-Jakob Kleinermann war dreiundsechzig, als er sich entschloss, sein Haus und das kleine Ladengeschäft „Feine Papier- und Schreibwaren“ am Lüttwark/Ecke Mühlenweg aufzugeben. Er hatte hier 27 Jahre gelebt und sich auch am richtigen Ort gefühlt, aber plötzlich wollte ihm die Vorstellung, in der unveränderlichen Umgebung wirklich alt zu werden, nicht mehr gefallen. Einen anderen Grund hätte er kaum nennen können, es ging ihm gut, er war gesund und einigermaßen wohlhabend – nicht durch geschäftliche Erfolge, der Kleinhandel war mehr ein Zeitvertreib für ihn. Er genoss ein Erbe aus den väterlichen Anteilen an der Tuchfabrikation, die einst den wirtschaftlichen Aufstieg der Stadt mitbegründet hatte.
Die Fabriken für Stoffe und Leder waren in vergleichsweise kurzer Zeit aus dem Stadtbild verschwunden. Man hätte ein neues Stadtwappen gestalten müssen, das die Silhouetten von fünf Fabrikschornsteinen über einem weißen Schwan durch ein anderes Symbol ersetzte, doch wollte sich kein neuer bestimmender Erwerbszweig einstellen. Bad Faldera hatte sich mit der Zeit zum Verkehrsknotenpunkt und bloßen Durchgangsort entwickelt.
Der Schwan hatte den Niedergang überlebt. Es handelte sich, wie Herr Kleinermann vermutete, um ein männliches Exemplar. Versuche, ein Schwanenpaar auf dem Mühlenteich anzusiedeln, waren stets gescheitert. Möglicherweise war das Tier ein ebenso eingefleischter Junggeselle wie auch er.
Herr Kleinermann hatte kaum ein Auge für das majestätische Gehabe auf dem Wasser hinter seinem Haus. Der Schwan hingegen schien die meist stille Ecke am Auslauf des Teiches zu lieben. Täglich segelte er langsam wie eine Hanse-Kogge in den ruhigen Hafen und ging hier für einige Zeit vor Anker, wie um das ruhige Treiben am Lüttwark zu betrachten oder von den Leuten selbst bewundert zu werden.
Hier hatten vor Jahrhunderten Mönche einen Arm eines Flüsschens angestaut und das Überlaufwehr angelegt, um bei Bedarf eine tiefer angelegte Mühle betreiben zu können. Mühle und Mühlgraben waren längst verschwunden, über das Wehr ging nun die schmale Straße „Am Lüttwark“, das Wasser floss direkt unter den Füßen der Passanten weg und lief in einer Rohrleitung unter dem Mühlengang dem andern Arm des Baches zu, der nach Umrunden die Stadt dort bald unter Büschen und Bäumen erschien.
Man mochte sich wundern, dass für die eigentlich harmlosen Effekte ein solcher Aufwand betrieben worden war. Doch wenn man die Lebensbedingungen vor hunderten von Jahren bedachte, erhielt die Sache ihren Sinn. Eine Aue in der eher trockenen Geestlandschaft hatte für die frühen Siedler schon eine Bedeutung, und wenn das Wasser eine unscheinbare Erhebung gar als Insel umfloss, war das gewiss ein Grund, an diesem Ort ein Kloster zu gründen.
Auch in späterer Zeit hatte das Wasser des Flüsschens den Ausschlag für die Entwicklung zur Stadt gegeben: Wolle und Felle aus der Tierhaltung im Umland konnten nur unter reichlichem Wasserverbrauch zu Stoffen und Leder verarbeitet werden. Es war daher folgerichtig, dass die ersten Manufakturen dieser Art dort entstanden, wo sich die beiden Arme des Flüsschens hinter dem künstlichen Teich wieder vereinigten.
Herr Kleinermann kannte die Stadtgeschichte selbstverständlich ausführlicher. Er hielt in seinem Laden stets eine kleine Auswahl entsprechender Heimatliteratur vorrätig. Man kann aber nicht sagen, dass er sich für Stadtgeschichte besonders interessiert hätte. Nach seinem Volontariat beim Holsteinverlag, der darauf spezialisiert war, hatte ihn das Thema kaum noch berührt, er fand es unergiebig. Seit Jahrhunderten stand alles fest, war dutzende Male beschrieben, kommentiert und fotografiert worden, was sollte daran noch interessant sein? Geschichte war nicht sein Fall, schon in der Schule nicht. Zahlen und Namen, Schlachten, Helden, Sowieso der Große.
Aus Geschichte könne man nichts lernen, fand er. Jede Generation mache die gleichen Fehler, was ja irgendwie verständlich war, weil alle Menschen einen ähnlichen Kreis durchlaufen; sie sind Kinder, Jugendliche, Erwachsene oder Greise, immer mit den entsprechenden Bedürfnissen, die sie unter den wechselhaften Bedingungen zu erfüllen versuchen. Die Mehrheit musste sich da irgendwie durchhangeln. Man schaffte das natürlich, mit den üblichen Behelfen.
Konnte man Erfahrung überhaupt weitergeben?
Er hatte da so seine Zweifel; vererbbar sei sie jedenfalls nicht. Das wäre auch zu schön gewesen. Andererseits – er hätte keine großartigen Erfahrungen weitergeben können. Sein Leben war ohne sensationelle Einschnitte verlaufen, und er hatte keine Kinder.
Allgemeine Literatur führte er nicht, dafür war Berendsen am Großmarkt zuständig. Aber wer etwas Ausgefallenes suchte, kam zu Kleinermann. Der konnte durch seine Kenntnisse des Verlagswesens die seltsamsten Titel beschaffen. Dann sah man für zwei, drei Tage etwa ein „Plattdeutsches Wörterbuch“ im Schaufenster oder den „Historischen Atlas Schleswig Holsteins“ oder „Reise mit Humboldt zum Orinoco“. War das Bestellte abgeholt, galt es als ausverkauft, konnte bei Bestellung jedoch kurzfristig geliefert werde.
Werbung brauchte er nicht, Kleinermann war ein Begriff in der Stadt.
Man hielt ihn allerdings für etwas schrullig. An richtige Öffnungszeiten hielt er sich selten, wenn ihm so war, machte er den Laden zu und setzte sich in das kleine Gärtchen neben dem Haus, eigentlich nur ein Tortenstück von wenigen Schritten bis zum Wehr. Von dort hatte er den Laden im Blick, und für den Fall, dass er von einem Buch so gefesselt war, dass er nicht mehr aufsah, gab es die Klingel an der Tür.
Das Gärtchen bestand eigentlich nur aus etwas Kies hinter einer niedrigen Hecke. Man hatte jedoch einen schönen Blick an zwei alten Weidenbäumen vorbei aufs Wasser.
Er nahm das alles schon lange nicht mehr als etwas Besonderes zur Kenntnis; seit dem Erwerb des Anwesens waren viele Jahre vergangen, ohne dass es hier Veränderungen gegeben hatte; Haus und Inventar stammten aus dem vergangenen Jahrhundert, und ähnlich sah es in der Nachbarschaft aus.
Für Fußgänger bildete der Weg übers Wehr seit alters die kürzeste Verbindung zum Kleinen Markt. Fahrzeuge waren auch nach der Befestigung verboten, die Passage wäre dafür zu eng gewesen, zumal sie hinter dem Wehr in den noch schmaleren Propstengang einmündete. Infolge der beengten Verhältnisse hatte man besonders an den Markttagen den Eindruck eines dichten Menschengedränges.