Folge seinem Rat und siehe da, er lässt sich leicht herauslupfen. Werde es genauso bei der nächsten Champagnerflasche machen. Jetzt wird es spannend. Schaue hinein und entdecke tatsächlich ein weiteres Röhrchen, dessen Pfropfen mich ansieht: nun los! Zieh mich raus! Scheint es zu rufen. „Du kannst mich nicht zwingen zu tun, was ich nicht will“, rufe ich laut. Gebe meiner Stimme den Trotz eines beleidigten Mannes.
„Mit wem sprichst Du? Was sollst Du tun“, fragt Justus und zieht seine rechte Augenbraue hoch. „Ach, ich red’ so für mich hin.“ „So kenne ich Dich nicht, was also ist der Anlass? Des Pudels Kern, wenn Du es lieber hörst, Du Faustfanatiker?“
„Leck mich“ und halte das zweite Röhrchen hoch wie das erste, halte es mit der Öffnung nach unten, damit das dritte herausrutscht wie das zweite aus dem ersten Röhrchen. Nichts aber rührt sich, als klebte es fest. „Schnell, hol mir die Pinzette beim Friseur um die Ecke.“
Wo bleibt Justus nur? Blau ist die Farbe der Kälte, jetzt aber in meiner Hand ist es warm, bald wird es heißer, heiß wie Feuer. Aufregung soll den Herzschlag beschleunigen, das Blut erhitzen. In die Glieder, den Kopf steigen und wer weiß was noch. Endlich.
„Merçi danke.“ Versuche mit der Pinzette am Pfropfen zu ziehen, hin und her zu drücken, ihn zu lösen. Nichts. Ob einer beim Reinstecken nicht aufgepasst und es beschädigt hat? Ein Riss im Glas auf die Dauer den Inhalt austreten lassen. Sodass das Röhrchen fest mit dem es umschließenden Glases verklebt. Was jetzt?
Der Inhalt des Röhrchens muss also mit der Zeit fest geworden sein wie Uhu-Alleskleber. Glas mit Glas verbunden. Ist vielleicht Uhu im Röhrchen? Oder ein neuer Klebstoff, den Chef-Chemiker Dr. Bunsen in langen Versuchsreihen entwickelt hat? Was aber hatte Fritz Piccolo im Sinn? Etwa eine zweite Uhu-Marke auf den Markt zu bringen? Wo es ohnehin bereits vier Sorten Uhu gibt. Ganz abgesehen von aberhundert Klebern der Konkurrenz. Klebstoffe für alles, was kurz-, mittelfristig oder lebenslang zusammenhalten muss. Uhu schien lange einmalig zu sein. Wie Piccolos Knirps einmalig ist und bleiben soll. Mit großem Vorsprung vor jeglicher Konkurrenz. Patentamtlich beglaubigt, und Zukunftsvisionen, wie ich jetzt weiß.
Piccolo muss anderes im Sinn gehabt haben. Ist dieses neue Klebewunder vielleicht die Rettung der klassischen Ehe? Von Gott dem Chemiker eingegeben, damit Fritz Piccolo als Retter seiner Schöpfung in die Geschichte eingehen wird? Fritz, der seiner Juliette treu ist und bleibt, wie Justus mir erzählte. Und dabei mit dem linken Auge zwinkerte.
Wie aber soll dieses Wundermittel wirken? Soll Mann es schlucken, Frau in die Vagina träufeln? Klebstoff wäre das schlechteste Mittel zur Festigung einer Ehe. Selbst wenn es «Fidelitas» hieße. Heißa die Fidel, denken die Männer. Frauen an Walter von der Vogelweide, den bekanntesten Minnesänger, und verdrehen verzückt ihre Augen.
Das Mittel müsste, um eheliche Treue abzusichern, anders wirken. Anders verordnet werden, nicht von Ärzten. Als Placebo für Leichtgläubige vielleicht. Verordnet von Pfarrern. Dann müssten alle wieder in die Kirche gehen, sonst wüssten sie nichts davon. Und alte Zeiten wieder da. Eheliche Treue selbstverständlich. Das Wundermittel überflüssig.
Lass die Spintisiererei, befehle ich mir. Tatsache scheint zu sein, dass dieses Weiße im Röhrchen fest geworden, nachdem es eingefüllt. Dann wird es auch in Menschen fest werden. Magen und Gedärm verkleben und innerlich erstarren. Ob Dr. Bunsen es an lebenden Menschen ausprobiert, ist eher unwahrscheinlich. Seinem Chef Fritz Piccolo bestimmt nur vorgegaukelt wie Alessandro Cagliostro der Herzogin von Urbino. Ihm werde ich einen Strick drehen. Falsche Propheten soll man bloß stellen, dass sie nackt da stehen. Wie der Kaiser in seinen neuen Kleidern von Hans Christian Andersen.
Was aber ist das Weiße, das festklebt und sich partout nicht lösen lässt. Schüttele es kräftig, schlage mit der Faust, die das Röhrchen umfasst, auf den Tisch. Zwei, drei, viermal, sechsmal, siebenmal. Sieben eine heilige Zahl. Die Katholische Kirche könnte Recht haben. Sieben Sakramente garantieren ewiges Heil. Allen, die imstande sind zu glauben, was man nicht sieht. Ich aber sehe das Weiß im blauen Glas und bin verdammt. Verdammt zur Untätigkeit. „Justus, ich muss es wissen, hol mir einen Hammer.“
„Bist Du des Wahnsinns, mein Chef wird sofort entdecken, dass eines der Röhrchen fehlt. Glassplitter entdecken und das Schlimmste vermuten.
Ich aber hänge am Fliegenfänger. Wenn ’s das mal nur wäre. Du würdest mich herunterholen, Freund, der Du bist. Geschworen, mir beizustehen in jeder Not und Gefahr. Doch Fritz Piccolo wird es sofort spüren, wie er alles erspürt, bevor es geschieht. Mich vor Gericht zerren, den besten Ankläger bestellen, mich los zu werden für alle Zeit. Lass das Röhrchen sein, was es ist und stecke es wieder in das zweite, in das erste und wieder in das Fach in der Tasche, wo sie waren.“
„Sag bloß, Dich wurmt es nicht, keine Ahnung zu haben, was in dem Röhrchen steckt. Aber sich weigert ohne erkennbaren Grund. Klebstoff ist es ganz sicher nicht. Dein Chef scheint nicht so blöd zu sein, mit einem Mittel, das nur Bekanntes fixiert statt neue Perspektiven zu eröffnen. Es muss doch möglich sein, an sein Innerstes zu kommen. Wir werden es dann identifizieren, wie die Briefmarke im roten Umschlag.
Eine Minute vergeht, während mein Hirn rotiert. Hurra, ich hab eine Idee: Was hältst Du davon, es über eine brennende Kerze zu halten. Nur kurz, damit das erwärmte Glas den Inhalt aufweicht und schmilzt. Vielleicht löst er sich auf, fließt heraus und wir sehen, was es ist oder am Boden darunter versteckt hält.“
„Einverstanden, wollte mir gerade eine Zigarette anzünden. Hier, halte das Röhrchen über die Flamme. Moment, das Feuerzeug klemmt.“ Justus klickt mehrmals, aber der Docht weigert sich, Flamme zu werden. „Hat Du vergessen, Benzin nachzufüllen?“ „Heute Morgen noch, um nach dem Frühstück die übliche Zigarette zu rauchen.“ Schüttelt und klickt erneut. Blickt wütend auf das versilberte Ding in seiner linken Hand. Wechselt in die rechte. Als wäre er in die Front National eingetreten. Von Marine Le Pen beeindruckt. Da, jetzt brennt es.“
Das weiße Etwas löst sich auf, wird flüssig. Schnell die linke Hand darunter, aufzufangen, was heraus will. „Justus schnell, halte den Aschenbecher unter das Röhrchen, wenn ich es jetzt nach unten halte, den Saft aufzufangen. Beeil Dich, sonst verbrennt die heiße Flüssigkeit meine Hand. Du müsstest den Doktor holen oder besser sofort den Rettungswagen bestellen und in die Klinik rasen. Was ist, wäre es zu spät für ein Salbenpflaster? Sie müssten die verbrannte Haut abziehen und eine neue transplantieren. Spüre schon rasenden Schmerz, den Aschenbecher, schnell!“ Am Röhrchen hängt ein Tropfen und zittert. Mein Leben hängt am seidenen Faden.
Da löst sich der Tropfen vom gläsernen Rand. Wird im Herunterfallen groß und größer, zur Kugel aufgebläht. Landet auf dem Boden des blaugläsernen Aschenbechers mit der Aufschrift «Curacao bleu». Groß und rund wie eine weiße Billardkugel, das Blau ihrer Umgebung reflektierend. Fasziniert betrachte ich dieses Gebilde, das sich noch einmal um sich selber dreht wie die Erde. Als wolle sie prüfen, ob alles noch beim Alten ist. Die Sonne scheint und ich große Lust, sie mit dem Billardstock in eins der sechs Löcher zu stoßen.
Doch was hat das mit Fritz Piccolo zu tun? Was versteckt sich in dem Saft, der zur Kugel wird, erwärmt man ihn? Ein chemischer Prozess vielleicht, der z. B. aus einem Minimum ein Maximum werden lässt, wirft man es wie getrocknete Pilze ins Wasser, eine Messerspitze Trockenhefe in den Teig z. B. Will Piccolo jetzt in die Nahrungsmittelbranche wechseln? Nach Industrierohren und Regenschirmen die Konkurrenz überraschen?
Justus hat sich als erster gefangen, entdeckt, die Kugel hat eine Taillenschnur: „Sieh genau hin, es könnten zwei Halbkugeln sein, die man aufschrauben und wieder zusammenschrauben kann. Ihr Inhalt wird des Rätsels Lösung sein.“