Schulz sah wieder zum Küchenfenster hinaus. Drei neue Ü-Wagen waren angerollt. Von n-tv, Sat.1 und CNN. Ihr seid doch alle vom wilden Affen gebissen, dachte er und kehrte zu der Flasche Brandy El Maestro Sierra Gran Reserva zurück, die sein Ex-Verleger Gerd Haffmans ihm zum Sechzigsten geschenkt hatte. In einer Welt von Feinden war sie ein verläßlicher Freund.
»Du machst jetzt Folgendes«, sagte Hübner. »Du twitterst dein Bedauern und entschuldigst dich bei allen, die sich verletzt fühlen, und heute abend stehst du im Fernsehen Rede und Antwort. Ich stiele das ein. Und du putzt dich raus. In einer Stunde wirst du abgeholt.«
Zum Kochen fühlten Gerold Gerold und Ute Fischer sich viel zu müde. Gerold rief einen Pizza-Bringdienst an, und danach beantragte Ute einen Cinzano. »Falls deine Schwester sowas Abartiges im Haus hat und wir uns bedienen dürfen …«
Sie streifte ihre Schuhe ab, ließ sich auf die Couch fallen und nahm die Programmzeitung vom Tisch. »Hey, Gerold, willst du nicht auch mal wieder was anderes sehen als immer nur Blutspuren und die Goldzähne von Erwin Zapp? Vielleicht ’n Tierfilm? Oder einen Schmachtfetzen aus Hollywood?«
»Such uns was Schönes aus«, rief Gerold aus der Küche zurück, wo er Eiswürfel in einem Handtuch zerstieß. »Aber erinnere mich heute bitte nicht mehr an Zapps Freßleiste!«
Zu ihrem Entzücken stellte Ute fest, daß im Ersten nach der Tagesschau »Schlaflos in Seattle« lief. Einer ihrer großen Favoriten. Sie hatte den Film schon dreimal gesehen und sich jedesmal in Tom Hanks verliebt. Nur in »Cast Away« sah er noch prickelnder aus.
Gerold verteilte das Eis auf zwei Gläser, goß etwas Canadian Club, Cinzano Rosso und frischgepreßten Orangensaft darüber, fügte jeweils einen Fingerhut Angostura hinzu und schritt mit dem Serviertablett ins Wohnzimmer. Dort wollte er die Fischerin mit der Frage betören: »Vous désirez un apéritif, Mademoiselle?« Dafür reichte sein Schulfranzösisch noch aus, und so polyglott wie Erwin Zapp war er allemal.
Doch es kam anders. Der Spielfilm »Schlaflos in Seattle« wurde durch einen ARD-Brennpunkt ersetzt, in dem es um die Morde an Breddeloh, Schepker, Lindenthal und Weindl gehen sollte, und bevor Gerold eine Silbe sagen konnte, schrie die Fischerin auf: »Ihr Flitzpiepen! Ich hab Feierabend!«
Den Cocktail nahm sie umso dankbarer entgegen.
»Cin Cin«, sagte Gerold, als er sich neben ihr niedergelassen hatte, und Ute ergänzte den alten Trinkspruch: »Cinzano!«
Dann hörten sie sich an, was die öffentlich-rechtlichen Journalisten und ihre Interviewpartner zu der Mordserie zu sagen hatten: Blabla, blabla … Betroffenheit … Entsetzen … Mitgefühl …
Ein Kommentator behauptete, daß sich »ganz Deutschland im Schockzustand« befinde. Die Fischerin wollte schon umschalten, weil sie das Gequatsche nicht mehr aushielt, doch dann sagte der Anchorman: »Zugeschaltet wird uns jetzt live aus Hannover der Schriftsteller Frank Schulz, der vor einer Sonderkommission der Polizei gesagt haben soll, daß die Autoren deutscher Kriminalromane einer Mafia angehörten und daß die Morde an einigen von ihnen nichts weiter seien als eine Art angewandter Literaturkritik. Guten Abend, Herr Schulz.«
Auf dem Bildschirm erschien der Kopf von Frank Schulz, der in eine falsche Richtung blickte.
»Herr Schulz, was werfen Sie den Verfassern deutschsprachiger Regionalkrimis denn eigentlich vor? Ganz konkret?«
»Rein gar nichts!« sagte Schulz. Jetzt hatte er die richtige Kamera im Auge. »Das ist alles nur ein albernes Mißverständnis! Gegenüber der Polizei hab ich gesagt, daß es zynisch wäre, diese Morde als ›angewandte Literaturkritik‹ zu bezeichnen. Deswegen ist es ja auch geradezu lächerlich, mich als jemanden hinzustellen, der hier irgendwas verharmlost! Ich verachte den Mörder, der das getan hat, und ich hoffe, daß er geschnappt und streng bestraft wird!«
»Und inwiefern bilden die Autoren deutscher Regionalkrimis für Sie eine Mafia?«
»Herrgott, das hab ich doch nicht ernst gemeint! Sonst müßt ich doch ’ne Schacke haben. Die sind alle schwer in Ordnung! Meine Absicht war einzig und allein die, der Polizei einen kleinen Dienst zu erweisen. Auf deren Bitte hin, wohlgemerkt! Aber da meine Äußerungen falsch verstanden worden sind, möchte ich mich hier gern in aller Form entschuldigen …«
»Und wie hoch ist das Honorar, das Sie für Ihre Schmährede kassiert haben?«
»Wie oft soll ich’s denn noch sagen? Das war keine Schmährede!«
»Sie weichen aus. Wie hoch war Ihr Honorar?«
»Hundertfünfzig Euro. Und die hab ich gespendet. Und zwar an die Hilfsorganisation Weißer Ring, einen gemeinnützigen Verein zur Unterstützung von Kriminalitätsopfern. Hier ist die Spendenquittung!« Er hielt sie in die Höhe.
»Sie haben sich Ihre Spende also quittieren lassen, damit Sie das Geld von der Steuer absetzen können?«
Darauf fiel Schulz so schnell keine Antwort ein, aber sein gequälter Gesichtsausdruck sprach Bände.
»Soll ich die Frage wiederholen?«
»Das müssen Sie nicht«, sagte Schulz. »Sie können mir glauben, daß ich das Geld nicht gespendet habe, um mich zu bereichern. Das kann ich sogar beweisen. Hier, sehen Sie?« Er riß die Quittung entzwei und warf die beiden Hälften fort. Eine nach links und eine nach rechts. »Jetzt zufrieden?«
»Was soll dieser symbolische Akt bezwecken, Herr Schulz? Wollen Sie damit den Kriminalitätsopfern Ihre Verachtung zeigen?«
Gerold stöhnte auf und rief: »Können die den armen Kerl nicht endlich in Ruhe lassen?«
»Zum letzten Mal«, sagte Schulz. »Ich versichere hiermit hoch und heilig, daß ich niemanden verächtlich machen oder beleidigen oder verletzen will. Wenn ich das trotzdem getan haben sollte, tut es mir von ganzem Herzen leid. Auf Wiedersehen.«
»Wir hätten aber noch ein paar Fragen mehr!«
Er habe »alles gesagt«, murmelte Schulz, stand auf und ging aus dem Bild.
Der Anchorman zog die Brauen hoch und wandte sich wieder den Zuschauern zu. »Ja, meine Damen und Herren, Sie haben selbst gesehen, daß der Schriftsteller Frank Schulz zu impulsiven Handlungen neigt. Dafür ist unser nächster Gast aber jemand, der das Licht der Öffentlichkeit nicht zu scheuen braucht. Ich begrüße hier bei uns im Studio den Schriftsteller Waldemar König!«
»Madonna mia cara!« entfuhr es der Fischerin. »Nicht schon wieder diese Krücke!« Sie stellte den Fernseher aus. »Laß uns lieber Musik hören. Irgendwas Stimmungsvolles …«
»Meine Schwester besitzt sogar noch Vinylplatten«, sagte Gerold. »Vielleicht ist ja was Passendes dabei. Was verstehst du denn unter stimmungsvoll? Richard Wagner? Oder eher Dixieland?«
»Um Gottes willen! Nein, ich meine was Dezentes …«
Während Gerold eine Platte von Leon Redbone auflegte und die Gläser wieder auffüllte, massierte Ute sich die Füße und gähnte, bis ihr die Ohren knackten. Was für ein Tag!
Sie hatte nicht vor, Gerold zu verführen oder sich von ihm verführen zu lassen, aber als er neben ihr auf das Couchpolster sank, legte sie probehalber den Kopf an seine Schulter. Und Leon Redbone sang dazu mit seiner einschmeichelnden Kettenraucherstimme.
I like lazy weather, I like lazy days,
Can’t be blamed for having lazy ways …
»Wenn du keine plausiblen Einwände dagegen erhebst, werde ich dann mal den Arm um dich legen«, sagte Gerold.
»Ich bitte darum«, sagte Ute und schmiegte sich enger an ihn.
»Vorher müßte ich mich nur noch einmal kurz vorbeugen, um aus meinem Glas zu trinken. Wenn du erlaubst.«
»Tu das.«
Er tat es. Dann legte er den Arm um sie, und Leon Redbone croonte:
Up a lazy