Er zwinkerte ihr verschwörerisch zu, und in der Sitzung lief er zu einer noch größeren Form auf. »Mesdames et Messieurs«, sagte er, »Sie wissen, weshalb wir uns hier versammelt haben. Es geht ein Mörder um in Deutschland, und nur wir können ihn stoppen. Ich habe gestern abend noch sehr lange fernmündlich mit meinem alten Kollegen Ray Berry von der Behavioral Analysis Unit im National Center for Analysis of Violent Crime in Quantico in Virginia gesprochen, und wir sind beide der Meinung, daß der Täter schizophren ist. Als FBI-Agent hat Ray Erfahrung mit solchen Mißgeburten, und er hat mir dazu geraten, eine Rundmail an alle deutschen Psychiater zu schicken. Mit einem auf den Täter zugeschnittenen Fragebogen. Den könnten Kommissarin Fischer und ich dann gemeinsam erarbeiten …«
Kommissar Gerold sah Ute Fischer erschauern und tischte eine andere Idee auf. Er habe sich kundig gemacht, was diese Krimis angehe, sagte er. Ganz oben auf allen Bestsellerlisten stehe jetzt der Regionalkrimi »Mittelrheinfieber« von Bennatz Neuß aus der Verbandsgemeinde Bad Breisig am Rhein. »Da fährt der Mörder mit einem Transporter auf die Festung Ehrenbreitstein und läßt hinten aus dem Wagen einen scharfgemachten Rottweiler raus, damit er aus einem Drogendealer Hackfleisch macht. Das ist der einzige Mord in diesem Krimi, und es ist gut möglich, daß der Täter ihn gelesen hat. Vielleicht können wir Bennatz Neuß als Lockvogel einsetzen. Sofern er Lust dazu haben sollte, auf der Festung Ehrenbreitstein spazierenzugehen …«
Es wurden noch einige weitere Gedankenspiele erörtert: Wiesling schlug vor, die Namen der Opfer von einem Kryptologen checken zu lassen, weil da ja vielleicht ein verborgener Zusammenhang existiere; Haberfeld äußerte die Mutmaßung, daß die Tatorte Bad Bevensen, Hachenburg, Neuharlingersiel und Kißlegg ein geographisches Rebus darstellten, aus dem sich möglicherweise der nächste Tatort ergebe; Kommissarin Farian warf die Frage auf, ob das Vorleben der Opfer nicht noch intensiver als bisher auf Querverbindungen zwischen ihnen untersucht werden müsse, und Kommissarin Fischer regte an, die bestehende Arbeitsgruppe alle drei Stunden personell völlig neu zu besetzen. »Natürlich unter Ihrer bewährten Leitung, Herr Zapp. Auf diese Weise wäre der ständige Zustrom neuer Gedanken sichergestellt. Wer ist alles dafür?«
Zapp war der einzige, der nicht die Hand hob. Damit hatte Ute sich selbst und den anderen zu einem eleganten Abgang verholfen. Beim Hinausgehen hörte sie allerdings noch, wie Zapp die Kommissarin Schubert ansprach: »Auch wenn ich kein Forensiker wäre, würde mir auffallen, daß Sie hungrig aussehen! Darf ich Sie zum Essen einladen? Ich kenne ein italienisches Restaurant, das Sie lieben werden …«
Kommissar Riesenbusch zeigte sich dann recht angetan von dem Plan, Bennatz Neuß als Köder auf der Festung Ehrenbreitstein zu plazieren. »Am besten machen Sie beide gleich für morgen einen Termin mit ihm aus«, sagte er zu Gerold Gerold und Ute Fischer. »Machen Sie ihm klar, daß er nichts zu befürchten hat. Wir werden das Ganze so perfekt absichern, als wäre er der Dalai Lama persönlich!«
Frank Schulz war nur mal eben eingeduselt, auf dem Sofa in seiner Osnabrücker Dichterklause – ein Vorkommnis, dem keine große Bedeutung innewohnte. Aber als er nach einem Stündchen wieder zu sich kam, hatte sein Leben sich von Grund auf geändert. Er wußte das bloß noch nicht.
Nachdem er Teewasser aufgesetzt, die Post hereingeholt, einen Himbeerjoghurt gegessen und die Spülmaschine ausgeräumt hatte, öffnete er seinen E-Mail-Account und rieb sich die Augen. Konnte dort wirklich »2648 neue Nachrichten« stehen? Er sah noch einmal hin. Jetzt stand dort »2653 neue Nachrichten«.
Der Teekessel pfiff. »Halt’s Maul!« rief Schulz und starrte auf die vierstellige Zahl, die sich fortlaufend veränderte: 2657 … 2661 … 2668 …
Er klickte die neueste Nachricht an:
Schweine wie du gehören selber abgeknallt du Ratte!!! Wir krigen dich!!!
Und die darunter:
Wie können Sie es wagen, derart menschenverachtende Äußerungen von sich zu geben?! Sie sollten sich schämen!!
Und eine weitere:
Für Abschaum wie Sie ist das Gefägniß noch viel zu wenig! Man mus Sie ausser Landes abschieben in ein Staat mit Folter!!!!!!!!!!!!!!!!
»Da wird doch der Hund in der Pfanne verrückt«, sagte Schulz. »Haben die euch zu heiß gewindelt oder was?« Er lief in die Küche, brachte den Kessel zum Schweigen und schaltete sein Smartphone ein.
Das gleiche in Grün: eine Sintflut von Nachrichten. Und schon klingelte es.
»Schulz hier«, sagte Schulz voll banger Erwartung. Seine Stimme klang hohl.
»Ah, Herr Schulz! Wie schön, daß ich Sie erreiche! Mike Thiele hier von Radio N-Joy! Was sagen Sie zu der Debatte, die Sie losgetreten haben?«
»Welche Debatte? Ich versteh nur Bahnhof!«
»Na, hören Sie mal! Sie haben die deutschen Kriminalromanautoren als Mafia bezeichnet und die Morde an ihnen als ›angewandte Literaturkritik‹ bewitzelt! Und da wundern Sie sich noch, daß die Empörung hochkocht?«
Nun klingelte es auch an der Wohnungstür. Schulz beendete das Gespräch und sah durchs Küchenfenster nach unten. Auf der Straße stand ein Ü-Wagen vom NDR. Und gerade kam ein zweiter von RTL angebraust.
Aus der Küche hastete Schulz zu seinem Rechner zurück und googelte Mafia + Schulz + »angewandte Literaturkritik«.
37404 Ergebnisse! An erster Stelle stand ein Bericht von Bild.de, der vor dreizehn Minuten erschienen war:
Für den Schriftsteller Frank Schulz (62) gehören alle Krimi-Autoren einer »Mafia« an. Aber die Morde, denen vier von ihnen zum Opfer gefallen sind, sieht er ganz locker: Das sei eben »angewandte Literaturkritik«. Und nichts weiter.
Das hat Schulz gestern in Wiesbaden vor einer Sonderkommission der Polizei erklärt, die die bestialischen Morde an den Krimi-Autoren Armin Breddeloh, Frieder Lindenthal, Hobbe Hubertus Schepker und Justus Weindl untersucht.
Jetzt kriegt er die Quittung! Auf Twitter posten bereits Zehntausende unter dem Hashtag #SchulzAmPranger ihre Meinung. Der Krimi-Autor Waldemar König (48) gegenüber BILD: »Dafür wird Herr Schulz sich verantworten müssen. Ich habe Strafanzeige erstattet.«
Severin Dibelius, der stellvertretende Vorsitzende des Vereins der deutschsprachigen Kriminalromanautoren (VDDK), geht noch weiter: Er verlangt eine öffentliche Entschuldigung des BKA-Präsidenten und des Bundesinnenministers und die Offenlegung des Honorars, das Schulz für seinen Vortrag bezogen hat. »Das wird er auf Heller und Pfennig zurückzahlen müssen. Wie kommt das BKA überhaupt dazu, irgendeinen dahergelaufenen Kleinschriftsteller einzuladen, der auf Steuerzahlerkosten Spott und Häme über vier Mordopfer ausgießt? Und uns als Mafia denunziert? Sieht so die Arbeit der Sonderkommission aus? Wenn das so weitergeht, wird sich der Mörder ins Fäustchen lachen!«
An der Tür läutete es Sturm, das Smartphone bimmelte ohne Unterlaß, die Reportermeute auf der Straße wuchs, und Schulz atmete durch.
Was tun? Er genehmigte sich einen doppelstöckigen Brandy. Dann zertrümmerte er mit einem Handkantenschlag die Türklingel und rief seinen Verlagsagenten Thomas Hübner an.
»Hallo, Frank«, sagte Hübner. »Hast du deine Mailbox schon abgehört?«
»Nein, verflucht! Hab nur ’n Nickerchen gemacht und bin währenddessen offensichtlich tief in die Scheiße geritten worden!«
»Stimmt das denn, daß du diesen Vortrag gehalten hast? Im BKA?«
»Ja! Aber das ist auch alles! Das mit der Mafia war nur so dahingesagt, als Späßchen, und das mit der ›angewandten Literaturkritik‹ ist aus dem Zusammenhang gerissen worden! Ich hatte gesagt, daß es zynisch wäre, diese Morde so zu interpretieren! Und dann muß irgendwer aus dieser Sonderkommission das verkürzte Zitat mitsamt meiner E-Mail-Adresse an die Presse weitergegeben haben! Oder an Twitter oder Facebook oder weiß der Deibel! Und jetzt rennen die Journalisten mir hier die Bude ein!«
»Am