Nachdem Dalberg sich wieder beruhigt hatte, wurden die Anweisungen gegeben. Sofort möge man Schultheiß Bonifaz Kramer vom zu erwartenden Herannahen der Revolution verständigen. Der Nachtwächter solle die Nachricht bei nächster Gelegenheit in der Stadt verbreiten. Es sei Ruhe zu bewahren. Dalberg gab Order, seine vierspännige Kutsche vorzubereiten, zog sich in das kaiserliche Kabinett zurück, in dem er die vergangenen Tage und Wochen genächtigt hatte, ließ sein Gepäck zusammenraffen und kleidete sich in edle Gewänder, die seines Ranges würdig waren, obgleich er lieber den Jagdanzug trug. Doch dort, wo er nun hinfuhr, musste er amtlich als Koadjutor erscheinen und seine Bedeutung durch das Ornat unterstreichen. Er wollte noch in dieser Nacht in die Zweitresidenz gelangen, wo er den Kurfürsten vermutete, danach sollte es nach Prag weitergehen.
Der Diener erschien und meldete Reisefertigkeit. Unten im Hof bestieg Dalberg das schwarz lackierte Gefährt mit dem kurfürstlichen Wappen am Schlag. Auf dem Kopf trug er die frisch gepuderte Perücke. Zum Abt, der ihn verabschiedete, sprach er noch: „Ich wünsche Euch Glück, lieber Marcellus. Begeht würdige Ostertage! Und denkt an meine Worte: Den Träumern gehört die Zukunft!“ Dann gab er das Zeichen zum Aufbruch. Das Gefährt setzte sich in Bewegung und verschwand durch das schmiedeeiserne Tor in die schwarze Nacht.
VI
Bonifaz sah es nicht gern, wenn Kilian an den Nachmittagen mit dem Geigenkasten unter dem Arm das Haus verließ, um damit durch Feld und Wald zu streifen. Er hatte sich seinen Sohn noch einmal zur Brust genommen, hatte ihn an die Übereinkunft erinnert, hatte ihn ermahnt, sich nützlich zu machen, sei es in der Apotheke bei Bruder Jeremias oder wo auch immer, gerade jetzt könne man keine Träumereien gebrauchen, es gelte, sich auf den Krieg vorzubereiten. Das sei eine harte Sache und habe nichts mit nutzlosem Zeitvertreib zu tun.
Als Taugenichts wollte sich Kilian nicht bezeichnen lassen. Er verwies auf seine morgendliche Tätigkeit in der Apotheke und beklagte sich zugleich über den Apothekenbruder, der es nicht duldete, wenn sich sein Gehilfe aufwendigen Prozeduren zuwandte und hierzu in den dicken Folianten mit ihren farbigen Darstellungen schmökerte. Bruder Jeremias schlage ihm das Buch regelmäßig unter der Nase zu. Bonifaz wollte davon nichts hören. Kilian dachte, der Grund für seine Abneigung gegen diese Berichte sei die Vermutung, der Sohn entziehe sich bequem dem Unbequemen.
Bonifaz Kramer konnte es hingegen nicht ertragen, wie sein Sohn zum Diener pfäffischen Gehabes wurde. So ermahnte er ihn zwar in aller Deutlichkeit zum Schaffen, wusste sich aber hilflos und akzeptierte in aller Heimlichkeit den Drang Kilians, mit dem Geigenkasten unter dem Arm ins Freie zu kommen, um die engen Mauern der Stadt an den Nachmittagen hinter sich zu lassen und für einige Stunden das Weite zu suchen.
Erst aus der Ferne vermochte es Kilian, versöhnlich auf die Stadt zu blicken. Die Mauern, die bunten Balken, die vier Tortürme und die eng gedrängten Dächer schauten weit über alle Land. Am prächtigsten nahm sich das Ensemble der leicht erhöht liegenden drei Kirchen mit ihren fünf Türmen aus. Sie reckten ihren roten Sandstein in den Himmel, während es schien, als wollten ihre Schieferdächer das Grau des Spätwinters spiegeln. Die Klosterbasilika selbst war mit einem goldenen Verkündungsengel bekrönt, der in seinem Glanz alles Übrige festlich überragen und beherrschen mochte, obgleich er sein Fähnchen doch nur nach dem Wind richtete.
Dass sich die Sonne schon seit Wochen nicht mehr gezeigt hatte, bedrückte Kilian auf weiter Flur weniger als in der engen Stadt. Hier draußen wirkte das Leben leichter und heiterer. Sein Blick glitt über das flache Land. In der Ferne grüßten die bewaldeten Hügel. Verstreut fanden sich die kleinen Weiler der Bauern. Er pfiff sein Liedchen weg und konnte das Ausschlagen der Bäume kaum erwarten.
Kilian liebte den rauschenden Bach, der seinen Weg geleitete, liebte das in steter Bewegung befangene Mühlrad und liebte den grünen Wiesenhang, auf dem das Müllerhaus wie eine Kapelle thronte. Hier traf er seinen Freund Hyazinth, den jungen Müller, der die Maschinen klappern ließ und dessen Gesicht stets weiße Staubspuren zeigte.
Hyazinth war ein kleines Männlein. Sein Kinn wurde von einer tiefen Grube in zwei Hälften geteilt. Seine Augen waren von grauen Kreisen umrandet, seine Arme schwer und muskulös. Des Morgens lieferten die Bauern ihre Säcke auf Karren und Wagen an, um sie noch am selben Tage abzuholen. Hyazinth schleppte sie hinein zu den großen Trichtern, wo er ihren Inhalt dem ratternden Mahlwerk anvertraute, um schließlich das Mehl in den gleichen Säcken wieder hinauszubefördern. Trotz aller Reizlosigkeit des Äußeren schritt er bei diesem anstrengenden Schleppen stolz daher, schaute würdig drein, feierte auf diese Weise seine wichtige Aufgabe und war ein wenig stolz, dass die Mühle des Klosters seiner großen, vom Vernunftzeitalter durchdrungenen Maschine unterlegen war.
Kilian war von der Technik der gewaltigen Mahlmaschine fasziniert. Er konnte kaum glauben, welche Kräfte das Wasser des unscheinbaren Baches aufbrachte, um das Mühlenrad anzutreiben und eine Unzahl von Stangen und Steinen in Bewegung zu setzen. Er bewunderte die Ingenieurskunst, die dieses Maschinenwerk hervorgebracht hatte. Oft saß er im Mühlenraum auf einem Schemel, legte sein Kinn in die Hände und betrachtete, wie der starke, kleine, edle und würdige Hyazinth einen Sack nach dem anderen in die Trichter wuchtete. Wenn Kilian in diesem Raum eine Weile ausharrte, so trug auch er Spuren davon, wurde vom weißen Nebel eingehüllt und konnte alsbald seinen Namen mit großen geschwungenen Buchstaben in den Staub des Geigenkastens schreiben, den er auf den Schoß gelegt hatte.
Wenn aber das Mühlenrad nicht lief, wenn es einmal nichts zu mahlen gab, dann vertrieben sich Kilian und Hyazinth ihre Zeit beim Musizieren. Hier lagen Sinn und Zweck der Freundschaft. Kilian stimmte die Geige, während sich der junge Müller an sein Hammerklavier setzte und einspielte. Ihrer beider Virtuosität ergänzte sich. Man spielte Sonaten in galantem Stil. Rauf und runter bewegten sich die Finger auf Geigenhals und Tasten, mal schmetternd, mal lyrisch, mal fröhlich, mal bedrückend. Kilian ließ die Geige singen, während Hyazinth dem Klavier ungeahnten Ausdruck entlockte. Das Musizieren war ihnen ein Spiel, bei dem sie ihre Gemüter austobten, die durch Bildung und Arbeit kanalisiert und verfremdet waren. Sie fühlten sich ungebunden und entkamen für Augenblicke der Welt mit ihren Mühlenrädern, Apotheken und Kanzleien.
Kilian lag weniger an Hyazinth als am Musizieren. Die Klänge der Gemeinsamkeit sah man nicht, sie waren flüchtig. Sie kannten keine Mauern und ließen sich nicht einsperren. Die Töne verteilten sich im Raum und suchten das Weite. Hier waren keine engen Gassen, keine Mauern, keine Türme, keine Pfaffen. Die Musik kannte keine Schranken. Kilian fühlte sich in eine bessere Welt entrückt.
Bei Hyazinth war ihm so wohl zumute, wie zuletzt auf einer Wirtshausbank in Leipzig.
Der Freund führte ein abgeschiedenes Leben, versenkte sich ins Musikalische, arbeitete stetig an seinem Instrument und las an langen Abenden im Schein der Kerzen Partituren und unendliche Romane. Schon sein Vater, der alte Müller, war von besonderem Schlag gewesen. Er hatte Hyazinth auf die Lateinschule