ZEN und die großen Fragen der Philosophie. Heinrich Lethe. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Heinrich Lethe
Издательство: Readbox publishing GmbH
Серия:
Жанр произведения: Афоризмы и цитаты
Год издания: 0
isbn: 9783347073630
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So lautet beispielsweise eine bekannte Zen-Frage: „Zeige mir dein ursprüngliches Gesicht, bevor deine Eltern geboren wurden“5. In diesem Koan geht es darum, diejenige Sichtweise zu zeigen, die noch nicht in die Unterscheidung eingetreten ist (um unser ursprüngliches „Ge-sicht“). Diese scheinbar absurde Frage zielt auf damit auf eine tiefe Wahrheit. Bevor wir in eine bestimmte Lebenswelt mit seinen moralischen, gesellschaftlichen, wissenschaftlichen und religiösen Vorstellungen hineingeboren wurden, waren wir ein nahezu unbeschriebenes Blatt. Wer oder was sind wir, wenn wir alle diese erworbenen Vorstellungen über uns beiseite lassen? Die Frage zielt somit darauf ab, den Prozess der gedanklichen Erfassung der Wirklichkeit (den „unterscheidenden Geist“) hinter sich zu lassen und zu einer unmittelbaren Erfahrung der Wirklichkeit selbst zu kommen.

      Nun sind aber Koans nicht vergleichbar mit philosophischen Fragen, die in der Regel ein ganz bestimmtes Thema haben. Der Sinn aller Koans ist annähernd der gleiche: nämlich der, dass die Welt eine zusammenhängende Ganzheit ist und dass jeder Einzelne von uns eben dieses Ganze ist. Auch wenn nun alle Koans diese Einheit und Ganzheit zum Ausdruck bringen, so liegt doch jedem Koan eine bestimmte Perspektive, eine Frage oder Situation zugrunde, die sich zumindest in einigen ausgewählten Fällen in Form einer philosophischen Frage formulieren lässt. Diese Fragen zu stellen und die mögliche „Antwort“ im Zen aufzuzeigen, ist das Thema dieses Buchs.

      Im Folgenden möchte ich einen kurzen Überblick über den weiteren Ablauf geben: Zu Beginn des Buches erfolgt eine kurze Darstellung des methodischen Vorgehens, der phänomenologischen Methode. In dem nächsten Abschnitt wird auf die Notwendigkeit einer Erweiterung dieser Methode hingewiesen, um dem Anliegen im Zen auch gerecht werden zu können. Als Ausgangspunkt für die weiteren Betrachtungen dient dabei in erster Linie unser gegenwärtiges dualistisches Bewusstsein. Dieses Bewusstsein wird im Hinblick auf seine (denk-) geschichtlichen Wurzeln einer genaueren Prüfung unterzogen. Die Ausführungen in diesem Teil orientieren sich in erster Linie an den philosophischen Gedanken von Immanuel Kant und Rene Descartes. Dabei soll das, was wir als die Welt und unser Selbst bezeichnen, einer genaueren Betrachtung unterzogen werden. Über die philosophischen Gedankengänge und Analysen soll damit der Boden bereitet werden, um einen angemessenen Zugang zu den späteren Fragen zu ermöglichen. Anhand des philosophischen Gedankenexperiments von Johann Gottlieb Fichte soll das Phänomen des „inneren Beobachters“ einer genaueren Prüfung unterzogen werden. Im Anschluss an diese Erläuterungen wird versucht, anhand von ausgewählten Koans einige grundlegende philosophische Fragen zu beleuchten. Mithilfe der Koans soll die Perspektive der Einheit und Ganzheit in Bezug auf die gestellte philosophische Frage zum Ausdruck kommen.

      Ich möchte nicht versäumen den Hinweis hinzuzufügen, dass diese Wahrheit auf dem Wege der sprachlichen Vermittlung nicht zu erlangen ist, dass es sich dabei allenfalls um Fußnoten zu diesem Wissen handeln kann, also um den Finger, der auf den Mond zeigt. Der Finger, der in Richtung des Monds zeigt, ist nicht der Mond. Doch er ist dem Mond nicht so fremd, dass man auf ihn verzichten könnte.

      1 Zur begrifflichen Vereinfachung werde ich im Folgenden nicht zwischen Zen und Zen-Buddhismus unterscheiden und beide Begriffe in komplementärer Weise verwenden.

      2 Wie später noch zu zeigen sein wird, muss sich dieser Ansatz in unserer unmittelbaren Erfahrung erweisen – er ist somit radikal phänomenologisch.

      3 Zur Kultivierung dieser Fähigkeit verfügen asiatische Kulturen über gesellschaftlich verankerte Übungswege. Zu dem Zen-Weg nahestehenden Künsten gehören Bogenschießen (Kyudo), die japanische Teezeremonie (Chado), die Kalligraphie (Shodo), das Blumenstellen (Ikebana) sowie der Schwertweg (Kendo). All diesen Wegen gemeinsam ist das aufmerksame Tun im „Jetzt“ und das Ausschalten von störenden Ablenkungen.

      4 Durch das begriffliche Denken kommt es zu Unterscheidungen und dadurch grenze ich ein Ding von den anderen ab. Ein Begriff, der nicht unterscheidet und abgrenzt, also nicht dualistisch ist („Bäume“ und „Nicht-Bäume“), ist sinnlos (siehe auch Punkt 4.1: Koan vom Stock). Wenn wir im Denken Begriffe verwenden, so greifen wir einen Teil (z. B. einen Baum) aus einer Gesamtheit heraus. Wenn wir denken haben wir es somit immer nur mit Teilen zu tun, aber niemals mit der Ganzheit. Deshalb kann es – wenn überhaupt – nur zu Teilwahrheiten führen. Ein ganzheitliches Erkennen der Welt ist auf diese Weise nicht möglich.

      5 Dieses Koan hat eine fast identische Entsprechung in der abendländischen Überlieferung im Johannesevangelium in der Aussage: „Ehe Abraham war, bin ich“. Mittels des dualistischen Denkens ist der Zugang zu dieser Dimension jedoch grundlegend verschlossen.

       Kapitel 2 – Der Weg: methodische Vorüberlegungen

      Zur Methode: Das Wort entstammt dem griechischen „methodos“ und setzt sich zusammen aus den Wörtern „meta“ = „entlang“ und „hodos“= „Weg“. Der „Methode“ kommt also in etwa die Bedeutung von „Entlanggehen eines Weges“ zu. Die Methode ist also das Verfahren, welches einen bestimmten Weg aufzeigt, mit dem ein Vorhaben durchgeführt werden soll.

      Zu Beginn möchte ich kurz auf das methodische Vorgehen aufmerksam machen. Die Methode ist die jeweilige Hinblicknahme bei der Betrachtung eines Sachverhaltes. Darin zeigt sich die Art und Weise, wie vorgegangen wird, also das, was jemand tut bzw. tun muss, um zu den jeweiligen Erkenntnissen bzw. Einsichten zu kommen.

      Die nachfolgenden Ausführungen in diesem Kapitel enthalten einige Anmerkungen zu der Vorgehensweise. Es enthält einige grundlegende Überlegungen, um zu zeigen, wie bestimmte Hinblicknahmen bzw. Bewusstseinsweisen zustande kommen. Für den Fall, dass diese Ausführungen zu ausführlich bzw. zu theoretisch erscheinen, kann der Leser dieses Kapitel auch überspringen und gleich zu den philosophischen Betrachtungen (Kapitel 3) übergehen.

       Kapitel 2.1 – Die phänomenologische Methode

      Ich habe im vorangegangenen Kapitel davon gesprochen, die Perspektive der Einheit und Ganzheit möglichst genau beschreiben zu wollen. Nun gibt es auch in der neueren Philosophie eine methodische Schule, die eine möglichst unvoreingenommene Beschreibung der in unserer Erfahrung beobachtbaren Phänomene zum Ziel hat: die Phänomenologie. Die klassische Phänomenologie ist eine philosophische Methode und wurde zu Beginn des 20. Jahrhunderts von Edmund Husserl begründet. Ihr Leitspruch lautet: „Zurück zu den Sachen selbst“ - damit ist nichts anderes gemeint, als eine möglichst genaue und vorurteilslose Beschreibung unserer tatsächlichen Erfahrung.

      Phänomenologisch gehe ich also immer dann vor, wenn ich das beschreibe, was ich gegenwärtig erlebe. Eine solche unvoreingenommene Beschreibung meines Erlebens ist jedoch nicht einfach. Wir gehen ständig von unausgesprochenen Annahmen, Vorurteilen und Überzeugungen über die Dinge aus. In einem Roman über den philosophischen Existenzialismus beschreibt Sara Bakewell die phänomenologische Methode anhand einer Tasse Kaffee. Wie kann man das Geschmackserlebnis der Verkostung einer Tasse Kaffee phänomenologisch überhaupt beschreiben? In Zusammenhang mit diesem Phänomen gibt es doch viele Sichtweisen und Perspektiven, die einem dazu einfallen können. So kann ich beim Gedanken an eine Tasse Kaffee an die verwendeten Kaffeesorten, an die Anbauländer und die Anbauverfahren denken. Ich kann mir über die Verarbeitungsverfahren der Bohnen und die Art und Weise der Zubereitung von Kaffee Gedanken machen. Ich kann darüber Überlegungen anstellen, ob eine (weitere) Tasse Kaffee meiner Gesundheit zuträglich ist oder über den weltweiten Kaffeehandel nachdenken. Offensichtlich gibt es eine Anzahl von unterschiedlichen Perspektiven auf dieses Phänomen und je nach der ausgewählten Zugangsweise erhält es eine andere Bedeutung. Bei all diesen Aussagen handelt es sich um meine Gedanken über den Kaffee, aber nicht um meine direkte Erfahrung des Phänomens. Wenn ich jedoch die Verkostung einer Tasse Kaffee in den Mittelpunkt stelle, dann zählt alleine das reine sinnliche Geschmackserlebnis. Darüber kann ich nur im Augenblick des direkten sinnlichen Kontaktes etwas erfahren. Mit den Worten von Sara Bakewell:

      „Dieser Kaffee ist ein volles Aroma, duftend und robust zugleich; er ist die träge Bewegung eines Dampfkringels, der aus der Tasse aufsteigt. Wenn ich sie an meine Lippen führe, ist er eine sich