ZEN und die großen Fragen der Philosophie. Heinrich Lethe. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Heinrich Lethe
Издательство: Readbox publishing GmbH
Серия:
Жанр произведения: Афоризмы и цитаты
Год издания: 0
isbn: 9783347073630
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und logischen Argumenten. Allem Wissen, dass auf diese Weise erworben wird, fehlt gewissermaßen die Unmittelbarkeit. Unmittelbar ist nur das, was direkt, also ohne einen Prozess oder Erklärung verständlich gemacht wird und daher ursprünglich ist. Das Verstehen oder Begreifen verfehlt damit den entscheidenden Punkt. Die Erkenntnis, auf die es im Zen ankommt, ist das Ergebnis einer tief gehenden eigenen „ Einsicht“. Bezugnehmend auf das zuvor aufgeführte Bild würde das bedeuten: Der gesuchte „Schatz“ liegt im Acker verborgen und kann nicht woanders gefunden werden. Alles, was von außen kommt, ist etwas anderes. Zen entzieht sich somit dem Zugang durch die Vernunft, auch weil es sich jeder begrifflichen Bestimmung verweigert.

      Wenn nun im Zen auf die direkte Erfahrung selbst verwiesen wird, dann darf man nicht die Erwartung damit verbinden, dies mit außergewöhnlichen Erfahrungen oder geistiger Entrücktheit gleichzusetzen. Vielmehr ist in erster Linie eine Einfachheit und Klarheit des Geistes3 gemeint, die auf die Erfahrung und das Tun im gegenwärtigen Augenblick gerichtet ist und ohne unnötige Gedanken und Ablenkungen auskommt. Leider ist für die meisten modernen Menschen dieser einfache Geist oder Bewusstseinszustand nur mehr schwer vorstellbar. Er wurde weder gefördert, noch genießt er in unserem rational-technischen Zeitalter einen besonderen Stellenwert.

      Der (Übungs-)Weg der Einfachheit und Klarheit des Geistes führt in die tiefe Alltäglichkeit, in die Welt der Menschen und des Umgangs mit den alltäglichen Dingen. Dabei geht es um ein waches und konzentriertes Aufgehen im einfachen Tun, ohne ein darüber hinaus liegendes Ziel oder einen bestimmten Nutzen anzustreben. Das klingt nun wahrlich nach nichts Besonderem. Und dennoch: Darin kann das gesamte Universum, die Einheit und Ganzheit der Phänomene, also alles aufscheinen. Die Besonderheit liegt daher auch darin, dass dabei auf eine Form der unmittelbaren Erfahrung gezielt wird, bei der noch nicht zwischen Ich und Anderem unterschieden wird. Darin sind Innenwelt und Außenwelt gewissermaßen vereint – eins.

      Das verstandesmäßige Denken kann es sich nicht vorstellen, die Begriffe können es nicht erfassen. Und warum nicht? Durch die Verwendung von Begriffen treffen wir Unterscheidungen. Dadurch unterteilen wird die Wirklichkeit in lauter einzelne Teile (Dinge), die unabhängig voneinander zu existieren scheinen. Demzufolge gelangen wir zu täuschenden Vorstellungen über die Dinge und über uns selbst. Zur Veranschaulichung dieses Sachverhaltes möchte ich ein einfaches Beispiel anführen:

       Sitzen im Garten

      Ich sitze auf einem Holzstuhl und betrachte den vor mir liegenden Garten. Ich habe mir vorgenommen, an nichts zu denken und mich auf meine eingehenden Wahrnehmungen einzulassen und sie möglichst genau zu registrieren. Mein Gesichtsfeld ist mit den Farben und Formen des Gartens ausgefüllt. Ich sehe die Bäume, Sträucher, Blumen, Pflanzen und das satte Grün der Wiese vor mir. Mein Blick schweift scheinbar ziellos umher. Der Schatten des Kirschbaums verbreitet an diesem Spätsommernachmittag eine angenehme Kühle. Die auf dem Boden liegenden feuchten Holzspäne wecken einen Geruch von Moder und Erde, der für einen Moment meine Nase ganz ausfüllt. Ich bemerke das immer wiederkehrende Gezwitscher der Vögel und ein leises Blätterrauschen. Ein leichtes Druckgefühl im Rücken lässt mich etwas unruhig auf dem Stuhl hin und her rutschen. Dabei fällt mir auf: Meine geschilderten Wahrnehmungen und Empfindungen, die ich mir während meines Sitzens bewusst vergegenwärtigt habe, sind alle schon sprachlich sortiert und eingeordnet. Durch die Einordnung meiner Wahrnehmungen wurde der Gesamteindruck in einzelne Teile zerlegt, den mir bekannten Begriffen zugeordnet4 und dadurch habe ich bestimmte „Dinge“ erkannt. Das klingt auf den ersten Blick unschuldig und auch ganz selbstverständlich. Ich nehme die mich umgebende Welt fast ständig auf diese Weise wahr: als eine Ansammlung von getrennten und voneinander unabhängigen Dingen.

      Die genaue Betrachtung dieses Vorgangs legt nun einen bestimmten Verdacht nahe. Die Art und Weise, wie wir die Welt mittels der Sprache beschreiben, muss einige Vorannahmen und Voraussetzungen enthalten, die wir unbewusst unseren Erfahrungen überstülpen. Unsere Sprache ist eine Sprache der Gegenstände und Dinge. Mit dem begrifflichen Denken übernehmen wir damit wohl auch stillschweigend einige Vorstellungen über die Welt und über uns selbst. Diese prägen unsere Sichtweise und unser gegenwärtiges Bewusstsein. Dieser Sachverhalt lässt sich vielleicht am Bild einer Brille etwas veranschaulichen. Die Sprache bildet quasi die Gläser einer Brille, durch die hindurch wir die Welt sehen und verstehen. Unsere gewöhnliche Wahrnehmung bewegt sich immer schon in dem Rahmen einer begriffenen und verstandenen Welt. Auf diesen Punkt werde ich in den späteren Ausführungen noch ausführlich zu sprechen kommen.

      Nun ist unser gegenwärtiges Bewusstsein aber nichts ein für allemal Feststehendes, sondern ein über viele Jahre gewachsenes Bewusstsein. Unsere individuelle Entwicklung, die Sprache, die Kultur und das gesellschaftliche Umfeld haben dazu beigetragen, eine Form des Bewusstseins zu entwickeln, dass man auch als dualistisches Bewusstsein charakterisieren könnte. Hierzu gehört auch die immer gegenwärtige Trennung zwischen der Welt auf der einen Seite und demjenigen, der die Welt mit seinen Sinnen wahrnimmt. Das dualistische Bewusstsein legt sich wie ein Schleier über alles und bestimmt dadurch grundlegend alle unsere Erfahrungen. Die Unmittelbarkeit, Einheit und Ganzheit der Wirklichkeit geht dadurch verloren. Wenn man jedoch zu dieser einen und ungeteilten Wirklichkeit vordringen möchte, muss man alles begriffliche Wissen hinter sich lassen - so zumindest die Forderung im Zen.

      Wenn aber nun alles begriffliche Wissen trügerisch ist, welche Möglichkeiten bestehen dann überhaupt um philosophische Fragen zu beantworten? Es soll hier ja nichts anderes als der Versuch unternommen werden, aufzuzeigen, welche Antworten zustande kommen, wenn man philosophische Fragen stellt. Dies wäre nur dann möglich, wenn die Antworten nicht die klassischen Antworten im herkömmlichen begrifflichen Sinne wären, sondern eine zugrunde liegende mögliche Erfahrung beschreiben würden – also die Perspektive der Einheit und Ganzheit wiedergeben. Diese Perspektive der Einheit und Ganzheit lässt sich phänomenologisch beschreiben. Die Erfahrung selbst kann nur jeder selbst machen. Darin liegt ja gewissermaßen der Wahrheitsausweis dieser Methode. Mit der Beschreibung wird jedoch gleichzeitig die Möglichkeit eines grundlegend anderen „Vernehmens“ der Phänomene, jenseits des gewöhnlichen Verstehens, offengelegt bzw. gezeigt. Damit einher geht eine kritische und sachliche Analyse der beobachtbaren Phänomene. Auf diese Möglichkeit der Betrachtung (in Ergänzung der eigenen Übungspraxis) wird in vielen spirituellen Schulrichtungen als notwendiges Mittel zur Entfaltung von Weisheit hingewiesen.

      Es handelt sich somit bei den Antworten um den Versuch einer Beschreibung der Perspektive der Einheit und Ganzheit, die in Zusammenhang mit einer bestimmten Fragestellung realisiert werden kann. Im Rahmen der Übungspraxis im Zen geht es dabei immer um die Verwirklichung der zugrundeliegenden Einsicht, das heißt um ein tiefer gehendes unmittelbares Verstehen, an denen der rationale Verstand nicht beteiligt ist. In der konkreten Verwirklichung dieser Einsicht und nur in der Verwirklichung dieser Einsicht liegt die zen-buddhistische Antwort oder besser: die (Auf-)Lösung der gestellten Frage. Alles, was darüber hinaus auch noch gesagt werden kann, resultiert aus dieser Einsicht.

      Zu den klassisch philosophisch-begrifflichen Antworten auf diese Fragen (wie man sie in jedem „Lehrbuch“ der Philosophie nachlesen kann) möchte ich nur kurz anmerken, dass sie zumeist derselben Dimension angehören, wie die zugrunde liegenden Fragen. Sie lösen daher die Frage in der Regel nicht auf bzw. führen nicht darüber hinaus, sondern verfestigen in vielen Fällen nur das zugrunde liegende Problem. Sie führen je nach Gewichtung der verwendeten Argumente zu unterschiedlichen „Standpunkten“ und Meinungen. Das traditionelle philosophische Denken hat letztendlich nie den theoretischen „Standpunkt“ verlassen, wo der Fragende und das Gefragte voneinander unterschieden sind und der Fragende selbst in (die) Frage gestellt wird.

      Im Gegensatz dazu hat die Zen-Tradition eine Reihe von Übungsweisen und Methoden entwickelt, um den Schüler für die nichtverbale Erfahrung der Wirklichkeit zu öffnen. In diesem Zusammenhang möchte ich insbesondere das geschichtlich überlieferte Koan-System heranziehen. Die Schulung mittels Koans wird im Rahmen der traditionellen Zen-Schulung insbesondere von der sogenannten Rinzai-Schulrichtung praktiziert (im Gegensatz zur Soto-Linie des Shikantaza = „nur Sitzen“).