»Mein guter Tankred, komm, komm«, rief Herr Lörich völlig ungerührt. »Ich habe eine tolle Überraschung.«
Er zog mich mit sich in seine akkurat aufgeräumte und klinisch reine Küche. Ich sträubte mich und war kurz davor, ihm vors Schienbein zu treten, als ich das Mädchen erblickte. Es lehnte gegen den Geschirrspüler und schaute mich missbilligend an. Mit den schwarzen langen Haaren, die ihm zottelig und schmutzig über die Schultern fielen, den abgewetzten Klamotten und Militärstiefeln, einem alten Rucksack auf dem Rücken und einer lächerlichen grünen Sonnenbrille auf der Nase – es war Winter und wir befanden uns in Herrn Lörichs Wohnung – löschte dieses Mädchen für einen Augenblick meine schlechte Laune, meinen Groll auf die Malaisen des Lebens sowie meinen Frust über die Weigerung meiner Mitmenschen, mich endlich zu verstehen. Dieses Mädchen löschte alles. Ich dachte nicht einmal mehr, war aber noch.
»Das ist Lejla«, erklärte Herr Lörich. »Deine Mutter wird sie bei euch aufnehmen, bis in ihrem Heimatland kein Krieg mehr herrscht. Davon weißt du doch sicher?«
Ich schüttelte verdattert den Kopf.
»Ist ja auch egal. Sie ist ein bisschen früher als geplant angekommen. Ich habe sie heute Morgen im Innenhof aufgegabelt. Bei euch war keiner da. Deshalb der Zettel. Aber sie ist recht eigenwillig. Hat sich geweigert, ihren Rucksack abzunehmen.«
Lejla schaute Herrn Lörich finster an. »Ich kenne dich nicht. Kann sein, dass ich wegrennen muss.«
»Also vor mir brauchst du keine Angst zu haben«, brachte ich mühsam hervor.
Sie lächelte mitleidig. Anscheinend glaubte sie mir sofort. »Tut mir leid, dass ich dich störe.«
»Macht ja nichts. Ich hatte ohnehin nichts vor.«
»Die Betreuer im Flüchtlingsheim sind Arschlöcher«, sagte sie. »Die haben mich heimlich hübsche Hure genannt. Ich würde ordentlich die Beine breit machen, damit ich in Deutschland bleiben könne. Die Idioten haben gedacht, ich würde sie nicht verstehen. Deshalb bin ich da abgehauen.«
Mir wurde schwindelig. Sie sprach für einen Flüchtling in der Tat erstaunlich gut Deutsch. Dieser Umstand machte sie beinahe verdächtig, zumindest solange man dem Vorurteil folgte, dass Menschen aus anderen Ländern höchstens radebrechen. Zugleich wunderte ich mich über ihre Wortwahl.
»Unser junger Gast hat seine Kindheit in Wien verbracht, musst du wissen«, sagte Herr Lörich, als könnte er meine Gedanken lesen. »Lejlas Eltern führten dort ein Restaurant.«
»Aha.«
»So viel habe ich schon herausbekommen.« Er grinste Lejla an, die daraufhin schnell wegschaute.
»Ich weiß auf jeden Fall nichts davon, dass wir jemanden aufnehmen«, sagte ich unsicher, weil ich keine Ahnung hatte, wie das hier weitergehen könnte.
»Eigentlich sollte sie erst nächste Woche zu euch kommen«, sagte Herr Lörich und strahlte dabei über das ganze Gesicht, als habe er etwas ganz Wunderbares zu berichten. »Vielleicht hat deine Mutter dir deshalb noch nichts von ihr erzählt.«
Lejla stapfte ungeduldig von einen Fuß auf den anderen. Anscheinend hatte sie genug von unserem Nachbarn. Wir verabschiedeten uns von Herrn Lörich und gingen ein Stockwerk tiefer in unsere Wohnung. Hier legte sie ihr Gepäck und die Sonnenbrille ab. Ich servierte ihr Apfelsinensaft und Nussschokolade von Aldi, von der ich mir nicht sicher war, sie zu mögen oder nicht, so seltsam schmeckte sie.
»Woher kommst du denn?«, fragte ich, um ein Gespräch zu entwickeln. Schweigen ist bekanntlich schwieriger, als belangloses Zeug zu labern.
Sie nahm ein Stück Nussschokolade und betrachtete es misstrauisch. »Dubrovnik.«
Das hatte ich schon einmal gehört, konnte es aber nicht einordnen. Alles, was nicht umgehend mein Interesse weckte, pflegte ich wieder zu vergessen. So halten sich Jugendliche Hirnkapazität für die wichtigen Dinge im Leben frei. Dubrovnik hätte folglich alles sein können, ein Putz- oder Brechmittel, eine Automarke aus dem noch unbekannten Ostteil unseres Kontinents, der niedliche Hund einer isländischen Zeichentrickserie oder ein griechisches Folterinstrument.
Lejla erklärte mir, um die Stadt würde seit einigen Monaten gekämpft und ihre Eltern hätten sie fortgeschickt, um sie in Sicherheit zu bringen. Ich kannte die Bilder des Jugoslawienkriegs aus dem Fernsehen. Für mich befand sich das alles in einem anderen Universum, denn was sich dort ereignete, erschien mir vollkommen surreal. Menschen, die anderen Bomben auf den Kopf werfen, gehörten nicht zu meiner Lebenswirklichkeit. Ich holte einen Atlas aus meinem Zimmer und ließ mir von Lejla zeigen, wo sich ihre Heimatstadt befand. Sie erklärte mir, aus der jugoslawischen Teilrepublik Kroatien zu stammen, die sich für unabhängig erklärt habe. Dubrovnik lag ganz im Süden an der Adria gegenüber von Italien. Ich war sofort neidisch, denn ich hätte zu gern direkt am Meer gelebt. Wasser in ozeanischen Mengen ist etwas Besonderes. Allerdings schien es 1991 in Dubrovnik nicht besonders idyllisch, denn die von den Serben geführte jugoslawische Armee beschoss laut Lejla die Stadt von einem hohen Berg mit Granaten und anderen Schweinereien.
Wir rechneten die Luftlinie von hier nach Dubrovnik aus. Ich kam zu dem Schluss, Lejlas Heimatstadt sei 130.000 Kilometer entfernt, was mir zwar ungeheuer weit vorkam, aber im ersten Moment durchaus plausibel, denn Krieg musste weit weg sein. Lejla fing herzhaft an zu lachen. Ihre Fröhlichkeit erstaunte mich. Ich hätte nicht gedacht, dass Menschen, in deren Land Krieg herrschte, so sein konnten.
»130.000 Kilometer sind ein Drittel der Distanz zum Mond«, sagte sie. »Ich bin aber nicht mit dem Raumschiff gekommen.«
Ich wunderte mich, woher Lejla die Entfernung zum Mond kannte, denn die erschien mir reichlich abstrakt. Ich rechnete erneut und kam diesmal auf 1.300 Kilometer. Wir fuhren regelmäßig in den Urlaub nach Südtirol, die Strecke von hier betrug 900 Kilometer.
»Wieso kennst du die Distanz zum Mond?«, fragte ich.
»Ist doch gut zu wissen, wie weit er weg ist. Dann erscheint hier auf der Erde Vieles näher«, antwortete sie.
Ich sparte mir eine Antwort, da ich fürchtete, mich vor ihr lächerlich zu machen. Stattdessen rechneten wir noch ein bisschen. Von hier nach Wien waren es 750 Kilometer. Nach Toronto 6.200 Kilometer. Von Dubrovnik nach Sydney 15.800 Kilometer. Dubrovnik London 1.700 Kilometer und so weiter. Dann kam mein Bruder nach Hause und machte sich über uns lustig, was wir doch für kranke Spacken seien und was ich da für eine neue Pennerfreundin mitgebracht habe. Er befand sich in einer schwierigen Phase, da er sich mit seinen zwanzig Jahren für total erwachsen hielt, sich aber nicht so benahm.
»Das ist Lejla«, erklärte ich ihm. »Sie kommt aus Dubrovnik. Da ist Krieg und es ist ungefähr 1.300 Kilometer entfernt.«
»In deinem Hirn ist auch Krieg oder warum laberst du so einen Scheiß?«
Linus absolvierte gerade den Zivildienst und plante, anschließend BWL zu studieren, um eines Tages richtig Schotter zu machen. Zumindest behauptete er das. Nachdem auch meine Mutter heimgekommen war und Lejla überschwänglich begrüßt hatte, berief Linus eine Krisensitzung in der Küche ein. So etwas hatte es in unserer Familie noch nie gegeben, aber mein Bruder faselte etwas von Demokratie, gleichen Rechten für alle und mangelhafter Informationspolitik seitens meiner Mutter, da sie uns Lejlas Ankunft verschwiegen habe. »Wir haben nicht gemeinsam darüber abgestimmt, also muss die weg«, sagte er energisch.
Lejla saß eingeschüchtert am Ende des Tisches und spielte an ihrer Teetasse herum. In eine fremde Familie zu kommen und dann eine Diskussion über die eigene Abschiebung anhören zu müssen, war sicher nicht schön.
»Das ist meine Wohnung«, erklärte meine Mutter glücklicherweise. »Wir haben genügend Geld und Platz, leben in Frieden und besonders ihr, meine lieben Söhne, in übertriebenem Wohlstand. Wir sollten uns in Grund und Boden schämen, nähmen wir dieses arme Mädchen nicht bei uns auf.«
Damit war die Sache geklärt. Für mich brach eine neue Zeitrechnung an und ich lernte die Spannweite des Lebens zwischen Himmel und Hölle kennen. Sie reichte weiter als eine Reise nach Dubrovnik.