Ich Idiot, weshalb folge ich überhaupt dieser Meute? Gruppenzwang. Anders kann ich es mir nicht erklären.
Nun stehe ich auf der höchsten Bühne des Rottlinger Sprungturmes. Zehn Meter über dem Wasser. Mein Kopf ist nahezu 12 Meter darüber
Rottlingen vor mir. Die Bader und die ganz vielen Herumlieger auf ihren Badetüchern zu meinen Füssen. Viele schauen zu uns auf den Zehner.
Ein leichter Chlorgeruch wabert über dem ganzen Freibad. Von unter dringt das Gebrummel von Hunderten von Menschen an mein Ohr. Und diese Luft ist prallvoll gefüllt mit hohem Kindergekreische; dieser Mischung aus Angst und Übermut.
Dort hinten die Albani Kirche, das Rathaus und zur Rechten der Schwarzenberg-Park mit dem Hauptfriedhof. Aber das alles interessiert mich jetzt nicht die Bohne.
Vielleicht wird man sich ganz bald um einen Liegeplatz auf dem Friedhof kümmern müssen, weil ich vor lauter Herzklopfen auf der Stelle sterbe.
Keiner kann sich vorstellen, wie unendlich hoch sich zehn Meter strecken, sobald man sie herunterspringen muss. Allein der Blick auf das ferne Wasser unter mir ist eine Qual. Das Freibad erscheint von hier oben klein.
Himmel, was macht jetzt der Sami?
Der wird doch wohl nicht?
Da, ein kurzer, schneller Anlauf und schon fliegt er, leicht zappelnd, vom Turm. Dem Wasser entgegen. Eine Fontäne zischt, ein- zwei- drei-vier-fünf Sekunden und der Kopf Samis taucht aus dem Wasser auf. Sprung überstanden; beendet.
Ich höre, wie einige Menschen dort unten in die Hände klatschen, das gilt dem Sami, oh, dieser Glückspilz.
Verdammter Mist, die Anita tut’s ihm gleich, Nase zu halten, kurzer Anlauf und zappelnder Absprung vom Turm. Klatsch!
Jetzt wird’s für mich aber allerhöchste Zeit, dass ich von hier oben eine Fliege mache.
Mich kriegen keine zehn Pferde zum Springen.
Aber was denn nun, wieder dieser verdammte Klammergriff.
Christa, Hilfe, was machst du mit mir? Ich hasse das!
Zwei weit geöffnete Glubschaugen schauen mich warmherzig lächelnd an. Sie schiebt mich mit ausgestrecktem Arm völlig zur Seite, dirigiert mich einige Schritte nach vorn und schon haben wir beide nichts mehr unter den Füssen: Wir fliegen gemeinsam mit weit ausgestreckten Armen vom Zehner. Der Flug, er dauert erstaunlich lange und ich empfinde ihn als wunderbar! Ein mächtiger Aufprall, aber dennoch nicht zu stark. Das kühlende Wasser am Körper ist eine Wucht.
Wer hätte das gedacht, ich vom Zehner. Ich werde es nie begreifen.
Ich höre viele Menschen Beifall klatschen, viel mehr als bei Sami und Anita. Aber ich werde den Verdacht nicht los, der Beifall gilt nur ihr.
„Wie spät haben wir?“
“Zwanzig vor Sechs.“
“Schiet, ich muss los.“
“Ich komme mit.“
Der Sami hat mir erzählt, dass sich heute um sechs ein Quintaner vorstellen will, der ihn am letzten Schultag auf dem Schulhof angequatscht hat, Mathenachhilfe in den Ferien.
Ich hab dem Sami zugeraten.
„Leicht verdientes Geld“, habe ich gesagt.
Anita hätte ruhig dableiben können, das wäre mir lieber gewesen.
Es ist die reinste Sünde, bei diesem Traumwetter nach drinnen zu gehen.
Christa macht nicht die geringsten Anstalten, aufzubrechen.
Sie hat ihren nassen, dunkelblauen Badeanzug gegen einen buntblumigen gewechselt. Vom Kiosk bringt sie auch für mich ein ’Eis zu Zehn’ mit und eine Rolle Zugspitzkeks, die kostet auch einen Groschen. Sie will unbedingt, dass wir sie uns teilen. Und ich würde liebend gern beides spendieren.
„Nichts da, wer die Idee gehabt hat, dem gehört sie, basta“
Es ist eigenartig. Nachdem wir zusammen vom Turm gesprungen sind, und wie sie nun lächelnd und entspannt auf ihrem roten Frotteehandtuch liegt, ist sie mir plötzlich sympathisch. An ihre quietschende Stimme habe ich mich gewöhnt. Ihrer Bastbadetasche hat sie ein Büchlein entnommen und beginnt eifrig zu lesen.
“Darf man wissen, was du da liest?“
Wortlos reicht sie mir das Reclam-Bändchen: Mascha Kalėko.
“Die kenn ich nicht. Muss man die kennen. Sind ja nur Gedichte.“
“Hast du was gegen Gedichte?“
„Nee, aber ich kenne keine so richtig.
Liest du mir mal welche vor?“
“Nein, nein, wenn, dann musst du es schon selber tun. Man muss sich aktiv damit auseinandersetzen, sonst verpufft die Wirkung jedes Gedichtes.“
“So, meinst du das? Dann mal her damit.“
“Nee, Kurt, vorlesen darf man nur, mit viel Verständnis für den Inhalt. Lies dir das Gedicht erst ein paar Mal durch und sprich es mir danach vor.“
„Jawohl, Frau Lehrerin.“
“Frechdachs!“
Mensch, da habe ich mir ja was eingebrockt, und das in den Ferien. Eigentlich ist das gegen meine Überzeugungen. Ich tue nur selten das, was andere von mir wollen.
’Ich bin Ich’, habe ich mir immer eingeredet.
Und nun überrumpelt mich dies. Das Mädchen kann hexen, verhext mich hoffentlich nicht. Ich lese, lese 2mal, 3mal und dann laut:
Gebet
Herr: unser kleines Leben – ein Inzwischen,
durch das wir aus dem Nichts ins Nichts enteilen.
Und unsere Jahre: Spuren die verwischen,
und unser ganzes Sein: nur ein Einstweilen.
Was weißt du, Blinder von des Stummen Leiden!
Steckt nicht ein König oft in Bettlerschuhn?
Uns ward bestimmt, zu glauben und zu tun.
Laß du uns wissen, ohne viel zu fragen.
Lehr uns in Demut schuldlos zu verzeihen.
Gib uns die Kraft, dies alles zu ertragen,
und lass uns einsam, nicht verlassen sein.
„Pah, ganz schön anspruchsvoll, deine Mascha Kalėko.“
“Gefällt sie dir?“
„Ja sie gefällt mir gut, aber es ist nicht meine Welt. Ich mag alles, was mich aufbaut, auf Pessimismus, der nur herunterzieht, kann ich gut verzichten. Bin selbst Pessimist.“
“Dann scheust du dich wohl auch, ein besonders nachdenklicher Mensch zu sein?“
“Kann sein. Ich glaube, ich bin einfach nur zu faul.“
“Schade, ich hätte dir anderenfalls gern erzählt, was mit der Kalėko geschehen ist. Faule sind leider in der Regel unpolitisch, oder?
Unpolitisch sein ist Zeitkrankheit: Nur über nichts nachdenken!“
“Nun erzähl schon, bitte, verzeih mir!“
“Mascha Kalėko, ist eine junge Frau, sie lebt in Berlin.
Ich bewundere ihre schriftstellerische Begabung, und diesen wachen, kritischen Geist.
Mascha hat seit einem Jahr Schreibverbot, genau wie Erich Kästner, Kurt Tucholsky,