Ein Sommer in Cassis. Peter Berg. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Peter Berg
Издательство: Readbox publishing GmbH
Серия: Lesen ist das neue Reisen
Жанр произведения: Контркультура
Год издания: 0
isbn: 9783347113572
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Evelyn ist längst neu gebunden, sie hat rechtzeitig die Kurve gekriegt.

       Wohin führt mein Weg?

      Der runde, vielleicht nur fünfzehn Meter hohe Turm aus weißem Cassis-Stein hat eine umlaufende Bank. Sie macht seine besondere Attraktivität aus. Denn je nach dem Stand der Sonne und eigenem Wärmeempfinden kann man auf warmem oder kühlem Stein, im Sonnenschein oder Schatten sitzen.

      Gemächlich war ich an den von ihren neuen Besitzern restaurierten Fischerhäusern am Kai entlang geschlendert. Vorbei an den Läden und Boutiquen, wo nun die Verkäuferinnen ihr Auslagen und Warenkörbe vor die Türen räumten. Der brünetten Brillenverkäuferin, die aus Neu-Isenburg stammte, hatte ich wie jeden Morgen freundlich zugewinkt, und sie hatte mir wie immer ein Lächeln geschenkt. Dann hatte ich den Platz am hinteren Hafenende überquert. Dort, wo jetzt unter Platanen die ersten Boule-Spieler ihre silber glänzenden Kugeln auspackten. Dann hatte ich mich, den Badestrand links liegen lassend, geradewegs auf mein Ziel am hinteren Ende der Mole zu bewegt.

      Der weiße Kalkstein von Cassis, so las ich in einem Urlaubsführer, wurde bereits in der Antike genutzt. Die Kais des Hafens von Alexandria sollen aus ihm bestanden haben. Ganz sicher ist die Verwendung für den Sockel der Freiheitsstatue in New York. Ich setzte mich zuerst auf die dem Meer zugewandte Seite, um die warme Morgensonne zu genießen. Draußen kreuzten bereits zwei, drei der prachtvollen Jachten, die in den nahen Naturhäfen, den Calanques, ankern. Ein schnelles Boot jagte mit einem Wasserskiläufer am Horizont, die weiße Gischt hinter sich herziehend. Linker Hand ragt hier weithin sichtbar als Wahrzeichen des Ortes das gewaltige Felsmassiv des Cap Canaille fast senkrecht aus dem Meer. Mit seinen nahezu vierhundert Metern befindet sich hier die höchste, ins Meer abfallende Steilküste Europas. Davor, wie ein Adlernest, eine mittelalterliche Burganlage.

      Am ersten Tag nach meiner Ankunft hatte ich die junge Kellnerin beim Frühstück danach gefragt.

      „Nein, dort können Sie nicht hingehen, das ist privat!“ hatte sie mir geantwortet und mit deutlicher Ehrfurcht hinzugefügt „das sind die Michelins!“ Das hatte jedoch meine Neugier nur geweckt, und ich hatte mir vorgenommen, später zu versuchen, diesen geheimnisvollen Berg zu erkunden.

      Vom Badestrand schallten nun die Stimmen der Sommergäste herüber. Lautes Kinderlachen und lustvolles Schreien, wenn eine Welle durch vorbeifahrende Motorboote verursacht, den flachen Strand bespülte.

      Zuerst hatte ich in mein Tagebuch geschrieben, nun schloss ich die Augen, hielt mein Gesicht in die Sonne und genoss den leichten Wind, der von der See her wehte. Wenigstens etwas Bräune wollte ich mal wieder auffangen, um meine Frankfurter Büroblässe für ein paar Tage zu übertönen. Das hatte ich mir vorgenommen, und es war nach den paar Tagen schon gut gelungen. Dann wechselte ich die Turmseite und setzte mich, nun im angenehm kühlen Schatten, dem Hafen zugewandt. Dort drüben, vis-a-vis, lag mein Hotel, und daneben der Ort des grausigen Fundes von heute Morgen. Noch keine zwei Stunden waren es her, dass ich aus der trägen Urlaubslethargie aufgeschreckt und an meine berufliche Sphäre erinnert worden war. Von den Menschen, die sich versammelt hatten, war nichts mehr zu sehen, alles hatte sich verlaufen. Längst ging man wieder den Alltagsbeschäftigungen nach. War alles nur ein Spuk gewesen?

      Mein Blick schweifte den Hang hinter den Häusern der vordersten Reihe am Hafen empor. Dort oben standen in auslaufenden Gärten prachtvolle Villen der Neureichen, die sich hier ein Sommerdomizil zugelegt hatten. Von dort musste man einen traumhaften Blick über die gesamte Bucht, auf das Cap Canaille, das mittelalterliche Schloss und den Hafen haben. Ich geriet ins Träumen.

      Wie wäre es, wenn ich für immer hierbleiben könnte? Bevor ich diesen reizvollen Gedanken weiterspinnen konnte, zog ein Geschehen vor meinen Füßen meine Aufmerksamkeit auf sich. Zwei kleine Kinder, vielleicht um die Fünf, Junge und Mädchen, stritten immer lauter darum, wer einen Gegenstand, der dort im leise schwappenden Wasser bei der Hafeneinfahrt schwamm, zuerst mit einem Stock an Land ziehen durfte. Die Mütter der beiden waren derweil in einem Gespräch vertieft. Sie gönnten den Kleinen keinerlei Aufmerksamkeit. Meine Sorge galt den Kindern, die sich gefährlich weit auf einen der spitzkantigen Steine gewagt hatten und nun mit der nächsten Welle ins tiefe Wasser zu rutschen drohten. Instinktiv sprang ich auf und den Kindern zur Seite. Es war keine Sekunde zu früh, um den kleinen Mann, der sich mit dem Stock weit vorgelegt hatte, am Zipfel zu packen und vor dem Sturz ins Wasser zu retten. Der Stock entglitt ihm dabei, und er fing an, aus ganzer Seele zu schreien. Da erst hoben die Mütter ihre Augen und sahen einzig, wie ein fremder Mann den Jungen gepackt hatte. Sie stürzten herbei, nun selbst laut zeternd, und es dauerte eine Weile, bis ich ihnen den Ernst der Lage klargemacht hatte. Ob dieses wirklich gelang, konnte ich nicht feststellen, denn sie zogen schließlich mit ihren Kleinen von Dannen.

      Nur der Stock, der inzwischen auf den Stein gespült worden war, blieb zurück und der im Wasser schwimmende Gegenstand. Dieser erregte nun auch mein Interesse, sah er doch aus wie eine Tasche aus schwarzem Leder, und als hätte diese noch nicht so lange Zeit im Wasser verbracht.

      Für mich war es ein Leichtes, sie mit dem Stock aus den sanft dümpelnden Fluten zu angeln. Ich trug die Tasche zur Bank am Turm und leerte sie aus. Das Fundstück, das sich als bedeutsam erweisen sollte, trug außen eine silberfarbene Einstanzung, die es als Markentasche auswies. Ich kannte mich dabei nicht aus, hatte das Zeichen jedoch schon irgendwo gesehen. Ein Taschentuch mit kunstvollen Initialen I.V., ein Lippenstift, ein Schlüsselbund, fünfhundert Euro gerollt in Hunderterscheinen, ein paar lose Papierfetzen, geknüllt und mit Beschriftung, die deutlich in Gefahr war, durch die Nässe unlesbar zu wer-den, und, ich traute meinen Augen kaum, triefend nass aber entzückend, ein rosafarbener Spitzen-BH.

      Mir schwante sogleich, was sich später bestätigen sollte. Ich packte alles schnell wieder ein, griff nach meinen Sachen und eilte die Mole mit mindestens dem doppelten Tempo als auf dem Herweg zurück. Hatte mich dieser ‚Fall‘ schon wieder eingeholt?

      Als ich das Café bei meinem Hotel betrat, war es noch gut besucht von den Spätaufstehern und ersten Tagestouristen.

      „Monsieur Schneider!“ rief Catherine, als ich am Empfang vorbei hastete, nur schnell meinen

      Zimmerschlüssel greifend, „Ich muss Ihnen etwas berichten!“

      „Später!“ entgegnete ich, „keine Zeit!“

       2

      Die Polizeipräfektur lag am oberen Ende der Rue César an einem kleinen Platz. Als ich eintrat, warteten bereits einige Menschen auf Bänken im Flur. Da ich diese Situation kenne, gab ich mir keine Mühe, mich in die Warteschlange einzureihen, sondern trat mit meinem berufsmäßigen Habitus sogleich an den Tresen, hinter dem ein Uniformierter saß, legte die Tasche, die inzwischen fast getrocknet war, darauf und sagte: „Monsieur, die Tasche gehört, glaube ich, zu Ihrem Kriminalfall.“

      Der schreibende Beamte blickte kurz auf, musterte mich kritisch, stufte mich offenbar als Ausländer ein, überlegte kurz, ob er mich anweisen sollte, zu warten, merkte aber instinktiv an meiner bestimmten Haltung, dass es besser sein würde, sich mit mir nicht zu lange zu befassen und antwortete daher: „Welcher Fall?“„Der Fall des ermordeten Mädchens am Hafen“, entgegnete ich. Er lachte kurz auf, trat an den Tresen, sah die Tasche an und fragte: „Woher haben Sie diese?“

      „Sie schwamm im Wasser am Leuchtturm.“

      Derweil öffnete er den Reißverschluss, sah hinein und fragte: „Haben Sie irgend etwas herausgenommen?“

      „Nein“, war meine schnelle aber nicht ganz richtige Antwort, hatte ich den Inhalt doch zweimal inspiziert, einmal auf der Steinbank am Leuchtturm und dann gründlicher in meinem Hotelzimmer. „Nein, es fehlt nichts“, fügte ich bestätigend hinzu, „auch die fünfhundert Euro habe ich darin gelassen!“

      „Wissen Sie, wem die Tasche gehört?“ fragte der gar nicht unfreundlich wirkende Beamte.

      „Nein, ich vermute es nur“, gab ich zurück, „heute Morgen sah ich aus der Ferne, wie man eine junge Frau aus dem Wasser zog, vielleicht ist es ihre Tasche.“

      „Ist keine Carte d’Identité darin?“