Helle und der falsche Prophet. Judith Arendt. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Judith Arendt
Издательство: Readbox publishing GmbH
Серия:
Жанр произведения: Триллеры
Год издания: 0
isbn: 9783455009897
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der Unruhe im Körper, aber auch dem unstillbaren Bedürfnis nach Körperkontakt, die Helle fest an sich band, einspann in ihr Netz zärtlicher Verrücktheiten.

      Und natürlich Emil. Der Beste. Der, für dessen unbeirrbare Liebe es keine Worte gab, dessen feuchte dicke Nase Helles Herz erschüttern konnte, dessen Körper ihren Beschützerinstinkt ebenso erwachen ließ, wie er ihr Geborgenheit vermittelte.

      Familie. Helle brauchte sie jetzt mehr denn je, aber die Mitglieder der Familie Jespers waren im Moment weit voneinander entfernt.

      Jan-Cristofer knuffte sie sanft in die Schulter. »Du kannst zu uns ziehen für die paar Tage«, sagte er, offenbar ihre Gedanken lesend. »Ich kann dir ein superbequemes Sofa im Wohnzimmer anbieten.« Er ging um den Wagen herum zur Fahrerseite.

      Helle ließ sich auf den Beifahrersitz fallen. »Danke. Wenn es ganz schlimm mit mir wird, nehme ich dein Angebot an.«

      »Wir haben immer Chips im Haus und eine Playstation 4.« Wir, das waren Jan-Cristofer und sein siebzehnjähriger Sohn Markus, der vor einem Jahr von seiner Mutter zu seinem Vater gezogen war. Seit Jan-C für ihn sorgen durfte, fiel es ihm noch leichter, keinen Alkohol mehr anzurühren.

      »Dann wäre ich optimal versorgt.« Helle lächelte. Zum ersten Mal, seit die Nachricht vom Tod des Mädchens sie erreicht hatte.

      Sie fuhren vom Flughafengelände, verließen das Stadtgebiet Aalborgs und steuerten nach Norden. Während Jan-C den Wagen durch die Weiten Jütlands lenkte, unter dem schweren Himmel, gebeutelt von den Herbststürmen, die über die Landzunge fegten, rekapitulierte er für Helle noch einmal den Stand der Ermittlungen. Zwar hatte sie Akten und Dossiers bereits auf ihrem Tablet studieren können, aber durch den Filter ihres Kollegen gewannen die dürren Fakten an Kontur. Helle lehnte ihren Kopf zurück, schloss die Augen und lauschte der vertrauten Stimme.

      Die Leiche von Merle Brabant, neunzehn Jahre alt, wurde am Samstagnachmittag gegen siebzehn Uhr von einem Ehepaar, das mit seinen Hunden am Strand unterwegs war, bei Klitmarken in der Brandung entdeckt. Das Meer hatte den Körper an Land gespült. Ole und Jan-C, die als Erste vor Ort waren, hatten die junge Frau sofort identifiziert, deren Eltern sie noch nicht als vermisst gemeldet hatten.

      Merle trug einen Neoprenanzug, darunter einen Badeanzug, sonst nichts weiter. Die Polizei und Küstenwache suchten gegenwärtig Meer und Küstenstreifen nach ihrem Surfboard sowie Klamotten und Rucksack ab. Gefunden hatten sie noch nichts, denn die Suche wurde durch hohen Seegang erschwert.

      Dr. Holt hatte zunächst bei oberflächlicher Betrachtung des Körpers Tod durch Ertrinken festgestellt, Dr. Runstad, der Rechtsmediziner aus Aalborg jedoch, der auf Bitten von Helle die Leiche zu sich ins Institut geholt hatte, relativierte die Aussage. Er wollte sich so schnell noch nicht festlegen.

      Merles Körper wies einige oberflächliche Verletzungen auf. Nichts, was auf den ersten Blick einen gewaltsamen Tod vermuten ließ, aber Runstad wollte alles offenlassen. Im Blut des jungen Mädchens ließen sich eine hohe Konzentration von Alkohol sowie THC nachweisen. Die junge Frau musste stark benommen gewesen sein. Die Polizei war noch im Unklaren, ob es sich um ein Unglück oder einen gewaltsamen Tod – oder gar Suizid – gehandelt hatte.

      »Dieser Holt«, seufzte Helle. »Ist der nicht längst in Rente?«

      Sie hoffte inständig, dass sie durch die simple Diagnose des Erstbegutachters keine Zeit verloren hatten. »Hat Runstad sich schon geäußert, wie alt diese Verletzungen sind?«

      Der Gedanke, dass Merle – die kleine Merle, die sie seit beinahe zehn Jahren kannte, an die sie sich von der Einschulung ins Gymnasium erinnerte, an die blonden Zöpfe und die dürren Beine, an die aufgeschürften Knie und das heisere Kichern –, dass dieses zarte Mädchen vielleicht Gewalt ausgesetzt gewesen war, dass sie vor ihrem Tod gelitten, sicherlich Angst gehabt und sich verlassen gefühlt hatte, dass Merle etwas erlitten hatte, was auch ihren Kindern hätte geschehen können – das war ein schier unerträglicher Gedanke für Helle. Dass die junge Frau selbstgewählt in den Tod gegangen war, schloss Helle aus. Nicht Merle, ein so positives, an der Zukunft orientiertes Mädchen.

      »Du kennst doch den Leichenleser«, brummte Jan-Cristofer. »Am liebsten hätte er uns noch gar nichts gesagt.«

      Helle nickte. Dr. Nils Runstad war in ihren Augen der beste Rechtsmediziner Dänemarks, sein Wort galt. Es gab nichts, was er nicht fand, aber das hatte seinen Preis: Der Kettenraucher und Griesgram untersuchte sorgfältig, ließ sich von niemandem zur Eile antreiben oder zu einer Äußerung hinreißen, derer er nicht zu hundert Prozent sicher war.

      »Aber er weiß, dass du kommst und ihn nerven wirst«, fuhr ihr Kollege fort. Dabei warf er einen raschen Blick auf Helle.

      »Okay. Ich rufe ihn später an.«

      »Ich war gestern mit Ayuna bei den Eltern.«

      Jetzt war es an Helle, Jan-C anzusehen. Er biss sich auf die Lippen.

      Eltern sagen zu müssen: dein Kind ist tot. Die furchtbarste Aufgabe für Polizisten. Aber Helle fand es richtig, dass Ayuna Ekberg, die neue Leiterin der Polizeikommission Frederikshavn, Jan-C mitgenommen hatte. Er schaffte das. Er war gut in diesen Dingen; die Menschen spürten, dass er selbst Schreckliches erlebt und seine Seele auf immer markiert war. Vielleicht erkannten sich die Versehrten und Verletzten, vom Tod Gestreiften, dachte Helle manchmal. Dieser Gedanke tröstete sie. Ein wenig.

      Sie fragte jetzt nicht danach, wie die Eltern die Nachricht aufgenommen hatten. Die Antwort war immer gleich: Sie haben es kaum überlebt. Ihr Herz ist gebrochen.

      Außerdem würde Helle selbst noch heute zu Inez und Fredrick Brabant rausfahren, sie kannten sich so gut. Es war ihre Pflicht, ihnen zu sagen, dass sie alles tun würde, um Merles Tod aufzuklären. Auch wenn das ihnen die Tochter nicht mehr zurückbrachte. Aber es war wichtig für die Hinterbliebenen, Gewissheit zu haben. Zu wissen, was geschehen war.

      »Sie haben erzählt, dass Merle zur Fridays-for-Future-Demo nach Aalborg gefahren ist. Mit Freunden. Dort war sie regelmäßig, weil ihr Bruder da wohnt«, fuhr Jan-Cristofer nun fort.

      »Ihre Freunde sind aber ohne sie zurück nach Frederikshavn?«, rekapitulierte sie.

      Jan-C nickte. Sie passierten Frederikshavn und steuerten in Richtung Skagen durch Bannerslund.

      »Können wir gleich mal bei Møjen anhalten?«, bat Helle ihn. Dort war der Fundort der Leiche. Auch wenn es mutmaßlich nichts zu sehen gab, für Helle war es dennoch wichtig, sich ein Bild zu machen. Sie sammelte Bilder eines Falles in ihrem Kopf und immer fügten sie sich im Verlauf der Ermittlungen zu einem Mosaik zusammen. Einem traurig stimmigen Mosaik.

      Jan-C nickte und fuhr in seinem Bericht fort.

      »Merle wollte ihr Surfbrett bei ihrem Bruder abholen. Oder vielmehr«, verbesserte er sich, »sie hat es tatsächlich getan. Sie haben zusammengesessen und ein Bier getrunken. Dann hat er ihr Geld für den Zug gegeben.«

      »Wissen wir mittlerweile, ob sie Zug gefahren ist?«

      »Nein. Die Bänder aus Aalborg und Frederikshavn werden ausgewertet. Bis jetzt hat sich niemand an sie erinnert. Weder Schaffner noch Schalterbeamte. Aber die Kollegen sind noch dran.«

      »Sie müsste aufgefallen sein«, bemerkte Helle. »Wer ist im Oktober mit einem gelben Brett auf dem Rücken unterwegs?«

      »Richtig. Das ist unser schwarzes Loch. Wir wissen nicht, was zwischen Freitag, kurz nach fünf, als sie aus der Wohnung des Bruders gegangen ist, und Samstagnachmittag geschehen ist.«

      »Gibt es Zeugen dafür, dass sie bei ihrem Bruder war – und auch wirklich gegangen ist?«

      Jan-C sah sie wieder von der Seite an. Dass ein Bruder seiner Schwester Gewalt antun könnte, war ein furchtbarer Gedanke, aber Helle hatte recht: So etwas kam vor, nicht zu selten, und sie durften nichts ausschließen. Auch – oder gerade weil – sie die Familie kannten.

      »Ja. Seine Frau war auch da. Daran gibt es erst einmal keinen Zweifel. Die beiden sagen, Merle wollte zu Fuß zum Bahnhof gehen. Es ist nicht weit, vielleicht zwanzig Minuten durch die Innenstadt.«