»Na ja, Fehler, das würde ich so nicht sagen«, meinte Bengt beschwichtigend. »Sei nicht so hart zu dir. Du warst eben noch nicht so weit.«
Und du bist viel zu gütig zu mir, lieber Bengt, dachte Helle. Du bist und bleibst Sozialpädagoge. Und ich weiß: Ich bin dein schwierigster Fall. Laut sagte sie: »Ich hab’s verkackt. Die Chance kommt so schnell nicht wieder.«
»Weißt du«, sagte Bengt, als hätte er sie nicht gehört, »wenn Emil mal nicht mehr ist, könnten wir auch darüber nachdenken, nach Kopenhagen zu ziehen. Näher bei Sina sein.«
»O Gott! Die wird sich bedanken!«
»… ein schickes kleines Apartment in Nørrebro, du fährst mit dem Rad zur Arbeit ins Morddezernat, und abends gehen wir ins Kino. Oder ins Theater. Oder besuchen eine Ausstellung – meinst du nicht, das würde uns guttun?«
Helle schwieg. Wie oft hatte sie an diese Möglichkeit schon gedacht. Sörens Ruf nach Kopenhagen zu folgen. Mordkommission! Das war schon was. Aber sie hatte gleichzeitig auch Angst vor so einem Neubeginn. Ihr würden nicht nur ihre lieb gewonnenen Kollegen, ihr würde vor allem das Meer, die Weite, der Strand, die Dünen und, ja, die Einsamkeit Skagens fehlen. Außerdem hatte sie Angst davor, in einer Gruppe von Profis nicht bestehen zu können. Sie würde die Entscheidung einfach weiter hinausschieben, das wusste sie. Sie war noch nicht so weit. Noch nicht unzufrieden genug. Stuck in the middle.
Die Sonne war nun ganz an der Horizontlinie verschwunden, Helle fröstelte. Emil schlief schon wieder tief, aber sie weckten ihn auf und schlenderten Hand in Hand zu ihrem Apartment zurück. Bengt sprach noch ein bisschen über ein Leben in der Hauptstadt, sodass Helle der Verdacht beschlich, er wolle nicht ihretwegen den Lebensmittelpunkt verlagern, sondern weil ihm selbst die Decke auf den Kopf fiel.
Während sie den Tisch deckten, mit Weißbrot, Salzbutter, einem Käseteller, der von selbst laufen konnte, Oliven, Tapenade, gegrillten Paprika, terrine de canard und eingelegten Zwiebeln, sprach Helle ihren Mann darauf an. Bengt gab zu, dass es ihn reizen würde, gleichzeitig war er an Jütland beruflich gebunden und außerdem war sein Vater Stefan noch in einem Heim in Frederikshavn, auch ihn wollte er nicht im Stich lassen.
»Aber ich würde alles tun, damit wir beide nicht vor Langeweile sterben«, fügte er ernsthaft an.
»Dann musst du ein paar Leute umbringen«, lachte Helle. »So hätte ich was zu tun.«
»Dein Humor gefällt mir nicht«, meinte Bengt. »Du tickst manchmal nicht richtig.«
Helle wollte dem etwas entgegnen, aber dann rappelte ihr Handy und zeigte eine Flut von Anrufen und Nachrichten an – sie hatte es gedankenverloren wieder aktiviert und nicht damit gerechnet, gleich bombardiert zu werden.
»Verdammt, was …?«
Fünf Anrufe ihres Kollegen Ole. Drei Textnachrichten.
»Ruf bitte mal an.«
»Helle, bitte RR!«
Und zuletzt: »Wir haben eine Tote.«
Helle ignorierte alle weiteren Nachrichten und wählte augenblicklich die Nummer ihres Kollegen.
»Na endlich«, stöhnte Ole Halstrup.
»Was gibt’s?«
»Hier ist ein junges Mädchen gefunden worden. Am Strand bei Møjen. Wahrscheinlich ertrunken.«
»Um Gottes willen. Kennen wir sie?«
Ole schwieg einen Moment. »Helle, es tut mir leid. Es ist Merle.«
Helle wurde auf einen Schlag kalt. Es war, als gefröre ihr Blut. Merle. Merle Brabant. Eine enge Freundin von Leif. Sie kannte das Mädchen seit dem Kindergarten.
Bengt sah sie an. Er wusste sofort, dass etwas Schreckliches geschehen war und kniete sich vor seine Frau.
»Weiß man … ist sie … ein Unfall? Wissen die Eltern davon? Ich … o Gott, wie furchtbar.«
»Die Eltern sind benachrichtigt. Wir wissen noch nichts, Doktor Holt war gleich da und hat Tod durch Ertrinken festgestellt. Vermutlich ist sie fünfzehn bis achtzehn Stunden im Wasser gewesen. Fremdeinwirken können wir nicht ausschließen, sie hat ein paar Druckstellen an den Handgelenken. Aber um Genaueres zu sagen, müssen wir den offiziellen Befund abwarten. Sie ist in der Rechtsmedizin.«
Oles Ton war klar und sachlich, fast spröde, und Helle war ihm dankbar dafür. Trotzdem.
»Ich komme.«
»Helle, Frederikshavn übernimmt das.«
»Ich muss!«, unterbrach ihn Helle. »Ich nehme den nächsten Flieger.«
Und bevor sie auflegte: »Ruf Runstad an. Der soll sich den Fall rüberziehen. Ich will nicht, dass Holt da herumdilettiert. Wir dürfen keinen Fehler machen.«
Den letzten Satz hatte sie mehr geschrien, dann legte sie auf und schmiss das Handy quer über den Tisch. Presste sich die Hand vor den Mund, um den Schrei, der aus den Tiefen ihrer Seele drängte, zu unterdrücken. Bengt nahm sie wortlos in den Arm.
Eine Viertelstunde später hatte Bengt für Helle einen Flug von Nizza nach Kopenhagen gebucht, der erste am folgenden Tag. Hatte Helle in eine Decke gewickelt und mit Emil auf die Terrasse verfrachtet, die Flasche mit dem Pastis dezent verräumt und stattdessen einen Tee gekocht. Jetzt sprach er mit Leif, ihrem Sohn, um ihm die Nachricht zu überbringen, dass seine Freundin aus Kindertagen ertrunken war.
Helle hörte die Stimme ihres Mannes, die Worte drangen aber nur wie durch Watte an ihr Ohr, der Sinn erschloss sich nicht, sie konnte und wollte sich die Reaktion ihres Sohnes nicht ausmalen.
Merle war tot.
Ein Leben endete, noch bevor es sich wirklich entfalten konnte. Merle stand wie Leif an der Schwelle zu einem selbstbestimmten Leben, sie sollte jetzt entscheiden dürfen, welche Richtung sie einschlagen würde. Reisen oder Studium, Ausbildung oder doch erst einmal jobben? Großstadt oder Jütland, Fun oder Karriere, Frauen oder Männer, wer bin ich eigentlich. Die ganz großen Fragen, die sie sich jetzt stellen sollte, waren mit ihr auf den tiefen dunklen Grund des Meeres gesunken. Fredrick und Inez, ihre Eltern, die Helle so gut kannte, würden niemals erfahren, welchen Weg ihre Tochter Merle gewählt hätte.
Helle dachte an ihre Tochter Sina, die seit drei Jahren aus dem Haus und bei jedem Besuch eine andere war, sie immer wieder mit neuen Plänen überraschte und, anstatt ihre Eltern damit in den Wahnsinn zu treiben, Stolz und Freude in ihnen hervorrief, weil sie so voller Energie und Ideen war.
Und Helle dachte stets: Sieh mal einer an, was meine Tochter alles kann. Für was sie sich interessiert. Eine schillernde Person voller Möglichkeiten, die alle um sich herum in Atem hielt. Im Moment war sie mit ihrer Band als Straßenmusikerin irgendwo in Osteuropa unterwegs.
Aber Merles Eltern würden immer an ihre Tochter denken müssen, die leblos im dunklen Meer trieb, einsam im kalten Wasser.
Lieber Gott, dachte Helle, warum befolgst du Arschloch nicht die einfachsten Regeln: Kinder dürfen nicht vor ihren Eltern sterben.
Aalborg
Seit dem Auftauchen von Hiob war Willem komplett von der Rolle, und Marit, die ihn so gut kannte, hörte nicht auf nachzubohren. In der Nacht von Freitag auf Samstag