Runstad lachte und schüttelte den Kopf. »Kann ich nicht. Ich fahre wieder zurück. Die müssen sie erst mal freilegen, das dauert.«
»Sie? Du meinst, es ist eine Frau?«
»Die Leiche!« Der Rechtsmediziner packte sein Köfferchen, schmiss die brennende Kippe in den nassen Sand und sagte im Gehen über die Schulter. »Ich hab schon zu viel gesagt. Ihr bekommt den Bericht.«
Helle verkniff sich die Frage, wann das sein würde. Sie wusste, dass Runstad niemals Informationen preisgab, bevor er seiner Sache nicht vollkommen sicher war. Dafür war er besonders gründlich und gut. Seine Befunde hielten jedem Gericht stand, niemals konnte etwas angezweifelt werden, er irrte sich unter keinen Umständen. Er war der Mann für alle schwierigen Fälle. War man sich unsicher, zog man Runstad hinzu, den »Leichenleser«, wie Ingvar ihn einmal treffend genannt hatte.
Helle war erleichtert, dass er mit im Boot war und Ingvar sich nicht durchgesetzt und Dr. Holt hinzugezogen hatte. Vielleicht war auch das ein Resultat ihres nächtlichen Anrufs.
Sie bückte sich, um die Kippe des Mediziners aufzuheben, und steuerte dann den Fundort der Leiche an. In der Nacht hatte sie kaum Orientierung gehabt, aber nun musste sie nur in die Richtung der Menschenansammlung gehen.
Kaum war sie auf wenige Meter an die Gruppe der Neugierigen und Journalisten herangekommen, wurde sie auch schon belagert. Die meisten der Presseleute kannte sie, aber es waren auch einige darunter, die sie noch nie gesehen hatte. Die kamen nicht aus Fredrikshavn, sondern waren von den großen Sendern und Zeitungen. Jemand hielt ihr ein Mikro vors Gesicht.
»Weißt du, wer der Tote ist? Ist es ein Mann oder eine Frau? Wer hat die Leiche gefunden?«
Helle schüttelte nur lächelnd den Kopf und versuchte, sich mit den Ellenbogen durch die Menge zu drücken. Eine Kollegin, die die Absperrung zum Fundort überwachte, hob das Flatterband für Helle an, und sie schlüpfte darunter hindurch.
Die Leiche aus der Wanderdüne – so hatten beinahe alle Medien heute früh getitelt – war mit Planen abgeschirmt, außerdem hatten Helle und die Kollegen bereits in der Nacht ein Zelt über dem Fundort aufgebaut, damit nicht alle Spuren vom Regen weggewaschen werden konnten.
Zwei Spurensicherer machten sich mit Löffelchen und Pinselchen und was sie sonst noch an Spezialwerkzeug hatten, daran, die Leiche Millimeter für Millimeter vom Sand zu befreien. Allerdings war noch nicht viel geschehen, der zur Hand gehörende Unterarm lag frei, man erkannte einen Teil der Kleidung, es sah aus wie der Ärmel eines wattierten Anoraks.
In einigem Abstand standen sich zwei Kollegen – Linn und Bjarne aus Fredrikshavn – die Beine in den Bauch, pusteten in ihre Kaffeebecher und schlugen die Zeit tot.
»Hej Helle. Kaffee?« Linn deutete auf eine große Thermoskanne.
Kaffee war ein Angebot, das Helle niemals ausschlug. Sie pumpte die braune Flüssigkeit in einen Becher und stellte sich dann zu ihren Kollegen.
»Hast du den Leichenleser getroffen?« Bjarne zwinkerte ihr zu.
Helle nickte. »Aber er hat nichts rausgelassen.«
»Er war dreißig Sekunden hier. Hat einen Blick auf die Hand geworfen, eine halbe Kippe geraucht, und dann war er wieder weg«, kommentierte Linn.
»Er wollte warten, bis die Leiche freiliegt.«
»Das dauert noch ’ne Zeitlang«, sagte Björn seufzend.
Sie blickten nun alle drei zu den beiden Leuten von der Spurensicherung hinüber. Die Kollegen trugen weiße Overalls und waren völlig vertieft in ihre Arbeit. Sie befreiten den in der Düne steckenden Körper peu à peu vom Sand und sahen dabei aus wie Archäologen, die jahrtausendealte Mumien freilegen.
Als sie die Blicke in ihrem Rücken spürten, drehte sich einer der beiden zu ihnen um.
»Davon geht es auch nicht schneller«, grummelte er missgelaunt.
»Glaubst du, mir macht es Spaß, dir dabei zuzugucken?«, gab Bjarne nicht minder übellaunig zurück.
»Kaffee?«, ging Helle nun dazwischen und hielt dem Spusi ihren Becher entgegen.
»Drei Löffel Zucker und viel Milch.«
Helle nickte und zapfte ihm einen Becher.
»Fährst du gleich zum Meeting?«, erkundigte sich Linn bei ihr. »Würdest du mich mitnehmen?«
»Klar.« Helle reichte dem Kollegen von der Spurensicherung den Becher und besah sich bei der Gelegenheit die Hand genauer. Es war eine zierliche Hand, eine Frauenhand. Die Hautfarbe war ziemlich dunkel, aber Helle konnte nicht einschätzen, inwieweit das auf die Verwesung oder Mumifizierung zurückzuführen war. Der Sand schien den Körper gut konserviert zu haben – oder der Mensch in der Düne war noch nicht lange dort versteckt.
»Sieht mumifiziert aus.« Der Spurensicherer kam zu Helle, nahm ihr dankend den Becher ab und streifte sich die Kapuze vom Kopf. Ein junger Mann in den Zwanzigern kam zum Vorschein, blasse Haut, dunkle Haare.
»Rami.« Er lächelte Helle an. »Wir kommen aus Aalborg.« Der andere weiß verpackte Spurensicherer nickte kurz zu Helle herüber, widmete sich dann aber wieder der Leichenfreilegung.
»Helle. Ich bin von der Wache in Skagen. Freut mich, Rami.«
»Leitest du hier die Ermittlungen?«
»Nein. Das macht Ingvar aus Fredrikshavn. Er ist unser Vorgesetzter.«
Rami dachte nach und kratzte sich ausgiebig am Kopf. »Ich dachte nur, weil …«
Helle unterbrach ihn rasch. »Was meinst du mit mumifiziert?«
»Sand konserviert.«
Rami ging zu dem aus der Düne ragenden Unterarm und zeigte auf die dunkle, lederartige Haut. »Er schließt den Körper luftdicht ab, dadurch bleibt dieser weitestgehend erhalten, er trocknet lediglich aus. Ein Dörrsystem.«
Helle schauderte. Sie dachte an den Dörrapparat, den Bengt sich vor ein paar Jahren zugelegt hatte. Er hatte alles Mögliche darin getrocknet – Pilze, Kräuter, Obst, aber auch Streifen von Fleisch. Hirsch vor allem. Die lederartigen Streifen sahen der Haut der toten Hand ekelerregend ähnlich.
»Ich habe kaum Ahnung von Rechtsmedizin«, fuhr Rami fort, »aber ich vermute erstens, dass die Leiche schon länger hier vergraben ist. Und zweitens könnte ich mir vorstellen, dass sie ziemlich gut erhalten ist.«
Auch Bjarne und Linn waren nun näher gekommen und hörten dem Spurensicherer zu.
»Der Sand ist in den tieferen Schichten trotz der vielen Unwetter in den letzten Wochen weitestgehend trocken geblieben – oder zumindest haben die feuchten Sandschichten den Körper noch nicht erreicht.«
»Und wenn doch?«
»Dann würde der Körper verfaulen, und es wäre vermutlich nur noch das Knochengerüst vorhanden.«
Sein Kollege wies auf den feuchten Sand oberhalb der Hand.
»Ich vermute, dass ihr Kopf irgendwo da ist. Wenn wir Pech haben, dann ist die Feuchtigkeit schon bis dorthin durchgedrungen.«
»Und dann wäre von ihrem Gesicht nicht mehr viel übrig«, ergänzte Helle den Gedankengang.
Der Spurensicherer nickte.
Bjarne verzog leicht angewidert das Gesicht.
»Wir denken alle, dass es eine Frau ist, oder?«, fragte Linn interessiert.