Helle und die kalte Hand. Judith Arendt. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Judith Arendt
Издательство: Readbox publishing GmbH
Серия: Helle Jespers ermittelt
Жанр произведения: Ужасы и Мистика
Год издания: 0
isbn: 9783455006582
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denke schon.«

      Bjarne wandte sich an Helle. »Ihr geht die Vermisstenfälle durch, oder? Habt ihr schon was?«

      »Weißt du, wie bescheuert das ist?« Helle war im Nu auf hundertachtzig, was einen überfallartigen Schweißausbruch hervorrief. »Ausgerechnet wir sollen die Vermisstenfälle im Land durchgehen, dabei haben wir die lahmsten Computer und sind noch nicht mal im Zentralsystem. Wir müssen die Distrikte einzeln anfragen!« Sie zog mit einem Ruck den Reißverschluss ihrer Wachsjacke herunter, weil sie das Gefühl hatte, keine Luft mehr zu bekommen. »Wir brauchen ewig und drei Tage! Und Ingvar beschwert sich, weil es ihm nicht schnell genug geht. Aber ja. Meine Leute sind dran.«

      Bereits am frühen Morgen hatte Helle mit Ole, Jan-Cristofer und Marianne gesprochen, die sich bemühten, die Vermisstenfälle der letzten fünf Jahre zusammenzutragen. Helle hoffte inständig, dass die Leiche nicht schon zehn, zwanzig oder noch mehr Jahre hier verborgen war, da würde einiges zusammenkommen.

      Sie pustete sich die Haare aus der Stirn und zerrte den dicken Schal von ihrem Hals. Skagen und die Digitalisierung, das war ihr Reizthema. Oder einfach nur Ingvar. Ingvar war das eigentliche Problem.

      Manchmal begriff Helle selbst nicht, warum ihr Chef auf einmal so ein rotes Tuch für sie war. Bengt meinte, sie hätte sich endlich aus dem Schatten ihres Übervaters gelöst und ihn mit dem Fall um den toten Gymnasiallehrer, den Helle gelöst und dafür viele Meriten eingeheimst hatte, überflügelt. Tatsächlich war Ingvar seitdem nicht mehr so gut auf Helle zu sprechen, »sein Mädchen«, dem er alles beigebracht hatte. Anstatt stolz auf sie zu sein, bremste er sie aus. Und Männer, die sich ihr in den Weg stellten, hatten Helle Jespers immer schon zur Gegenwehr gereizt. Wenn einer daherkam und einzig und allein qua seiner Autorität oder eines höheren Dienstgrades meinte, ihr Anweisungen geben zu müssen, dann fuhr sie die Krallen aus.

      Wie auch immer, ob es nun an ihrem Ärger über Ingvar lag oder daran, dass sie zu dick angezogen war, der Schweiß brach Helle jetzt aus allen Poren, stand auf der Oberlippe, klebte auf der Stirn und sammelte sich unter den Achseln.

      »Wir müssen los«, sagte Helle schroff zu Linn, sie wollte jetzt weg hier, musste wieder Luft bekommen. Der heiße Kaffee, die hellen Lampen, die die Spurensicherung aufgestellt hatte, die vielen Leute – Helle fühlte sich bedrängt, am liebsten hätte sie sich an Ort und Stelle sämtliche Klamotten vom Leib gerissen.

      Bevor sie den Fundort verließ, machte Rami noch ein Foto von den bisher freigelegten Leichteilen und schickte es an das Kommissariat in Fredrikshavn, um den Stand der Freilegung zu dokumentieren.

      Helle und Linn bahnten sich stumm einen Weg durch die Gruppe von Journalisten, die ihnen die gleichen Fragen stellten wie zuvor, und gingen nebeneinanderher zum Parkplatz.

      Als Helle ihrer Kollegin die Beifahrertür zum Volvo öffnete, lachte Linn.

      »Nicht dein Ernst!«

      »Ist ja nicht mein Dienstfahrzeug«, gab Helle zurück und räumte die Tüte mit den leeren Flaschen, die sie seit ein paar Tagen mit sich herumfuhr, weil sie es nicht zum Altglascontainer schaffte, aus dem Fußraum.

      Linn setzte sich grinsend und hielt sich die Nase zu.

      »Wie hältst du das aus?«

      Helle schüttelte nur den Kopf, drehte Joni Mitchell noch lauter und fuhr los.

      Die Sonne kam hinter den Wolken hervor. Das flache Land, weiße Dünen, Heideland, vereinzelte Kiefernwäldchen, alles strahlte nun im Licht der Herbstsonne, die erstaunlich kräftig war. Das Meer im Osten reflektierte die Sonnenstrahlen und erzeugte ein magisches Leuchten.

       »They paved paradise and put up a parking lot.«

      Die Fahrt von Råbjerg Mile bis Fredrikshavn dauerte eine Dreiviertelstunde, Linn gewöhnte sich währenddessen an den Hundegeruch im Wagen, vielleicht hatte aber auch Jonis Stimme – hell, mädchenhaft und doch streng – sie versöhnt. Linn war erst ein paar Jahre in Fredrikshavn, sie war aus Aalborg dorthin gekommen und eine Jütländerin durch und durch. Erdverbunden, so nannte es Bengt. Bäuerisch, würde Helle sagen. Eine Frau Mitte dreißig, freundlich, gut gelaunt, Doppelbödigkeit war ihr fremd. Sie sagte, was sie meinte, und dahinter gab es keinen Interpretationsspielraum. Helle hielt sie für eine gute Polizistin, glaubte aber nicht, dass Linn das Zeug zu einer guten Ermittlerin hatte, weil sie sie nicht für phantasiebegabt hielt. Vermutlich hatte Linn auch keinerlei Ambitionen in diese Richtung.

      Sie hatten sich ein bisschen über Ingvar unterhalten, aber Helle war es nicht gelungen, ihrer Beifahrerin auch nur das allerkleinste skeptische Wort über ihren Vorgesetzten zu entlocken. Sie stand felsenfest zu ihm, so wie es auch Helle ihre gesamte Dienstzeit über getan hatte. Jetzt aber fand sie, dass es Zeit für ihn war, sich in den Ruhestand zu verabschieden. Nur noch zwei Monate, dann würde er Platz machen für einen Nachfolger.

      Oder eine Nachfolgerin.

      Die Polizeiwache in Fredrikshavn war fünfmal so groß wie die kleine Skagener Station. Dreißig Polizisten, darunter fast die Hälfte Frauen, externe Festangestellte für Sekretariat und Empfang, vier Arrestzellen und ein Archiv. Sie hatten sogar eine Art Asservatenkammer in einem umfunktionierten Abstellraum.

      Das von Ingvar anberaumte Treffen fand in einem Sitzungszimmer statt, in dem alle Polizisten Platz fanden. Es gab ein Whiteboard, einen Beamer und jemanden, der das alles bedienen konnte. Dieser Jemand war selbstverständlich nicht Ingvar selbst, wie Helle amüsiert feststellte.

      Nach den üblichen Begrüßungsfloskeln rekapitulierte der Chef, was sie bisher hatten. Und das war nichts – außer der Hand.

      »Solange Runstad uns keine Einschätzung gibt, solange die Leiche noch nicht freigelegt wurde, wissen wir nichts und können im Prinzip auch nicht wirklich mit den Ermittlungen loslegen.« Ingvar sah nicht sehr glücklich aus, als er seinen Leuten den Stand der Dinge zusammenfasste.

      »Skagen arbeitet an den Vermisstenfällen der letzten fünf Jahre, aber das bringt uns im Moment noch nicht viel weiter. Vielleicht liegt die Leiche dort seit zwanzig Jahren oder länger. Wir wissen nicht einmal, ob es sich um einen Mann oder eine Frau handelt. Oder ob ein Gewaltverbrechen zugrunde liegt. Kurz gesagt: Wir haben absolut keinen Anhaltspunkt.«

      »Was ist mit dem Zeugen?«, fragte einer der Kollegen.

      »Danke, Oliver.« Ingvar nahm einen Schluck Kaffee, bevor er fortfuhr. »Ja, also, der Mann …«

      Hinter ihm erschien auf dem Whiteboard ein Foto von Ansgar Norborg sowie eine Kurzzusammenfassung seiner Biographie, Adresse und der Aussage. Ingvar drehte sich irritiert um, als er merkte, dass alle Augen nicht länger auf ihm, sondern auf dem Whiteboard ruhten.

      »… ist meines Erachtens völlig unverdächtig. Die Leiche ist ja wahrscheinlich nicht erst gerade eben dort platziert worden, und es ist nicht anzunehmen, dass Ansgar jemanden umbringt, verbuddelt und sich Monate, wenn nicht sogar Jahre später bei uns meldet, weil die Leiche aus der Düne herausragt.«

      »Alles schon vorgekommen!«, rief einer aus dem Plenum, und alle lachten. Ingvar grinste ebenfalls, fuhr dann aber fort.

      »Er stand noch ziemlich unter Schock, als ich mit ihm gesprochen habe. Allerdings, er trainiert regelmäßig, läuft jeden zweiten Tag an dieser Stelle vorbei und schwört Stein und Bein, dass er die Hand bemerkt hätte, wenn sie schon vor zwei Tagen da herausgeguckt hätte. Was sagt uns das? Smilla?«

      Er zeigte auf eine junge Frau in der ersten Reihe. Wie in der Schule, dachte Helle empört, aber diese Smilla schien das gar nicht zu stören, stattdessen antwortete sie fröhlich: »Dass der Regen den Sand an der Stelle weggewaschen hat.«

      »Sehr gut.« Ingvar brummte zufrieden, und Helle ärgerte sich noch ein bisschen mehr über dieses oberlehrerhafte Getue.

      »Wir haben uns mit dem Küstenschutz darüber unterhalten. Henning?«

      Der Mann, der neben Ingvar vorne am Pult saß, tippte auf seinen Laptop, und sofort erschien auf dem Whiteboard ein Mann im Anorak, die Mütze tief im Gesicht. Er stand am Strand vor dem abgesperrten Tatort. Es schien sich um