»Aber das geht doch auch wieder vorbei. Momentan ist es halt alles ziemlich viel. Vielleicht sollten wir einfach mal Urlaub machen …«
»Ja, aber ohne Max! Aber selbst dann kommen wir wieder nach Hause und alles geht genauso weiter.«
»Wieso hast du so plötzlich ein Problem mit Max?«
»Weil ich dich dann nie allein für mich habe. Baby, ich muss und werde die Stelle an der Musikschule in Rom im August antreten. Komm mit mir, Nina. Bitte!«
Er spürte, wie Ninas Körper erstarrte.
»Michi, du stellst mich einfach vor vollendete Tatsachen und denkst, ich komme damit schon klar. Wie stellst du dir das denn vor? Soll ich Max und meinen Job einfach hinschmeißen? Versteh mich doch, ich kann hier nicht einfach alles zurücklassen. Max braucht mich. Ich kann ihn nicht im Stich lassen, er ist mein Bruder, ich bin für ihn verantwortlich.«
Michael hob sanft ihr Kinn, sodass sie ihm direkt in die Augen sah. »Nina, es tut mir leid, wenn ich dich mit Rom überrumpelt habe. Ich hielt es für die einzige Möglichkeit, etwas in unserem Leben zu ändern. Du warst nie da und wenn du zu Hause warst, kam Max meistens auch noch dazu.«
»Ich dachte, du magst meinen Bruder!« Nina richtete sich auf.
»Ja, schon … aber ich brauche dich doch auch. Seit Monaten warte ich darauf, dass du endlich die Verantwortung für Max mal etwas zurückfährst. Ich würde mir wünschen, dass wir beide mehr Zeit für uns hätten.«
Ein paar Minuten lang überlegte er, ob er weiterreden sollte. »Hast du dich eigentlich jemals gefragt, warum wir keine Kinder haben?«
»Wir können eben keine bekommen. Das haben wir doch mittlerweile ausreichend diskutiert. Außerdem ist es doch auch so schön genug mit …« Ninas Augen glänzten feucht in der Dämmerung.
»… mit Max?«
»Das ist unfair, Michael. Ich dachte, das Thema Kinder hätten wir abgeschlossen. Es gibt keinen physischen Grund, warum es nicht geklappt hat, das weißt du auch. Unser Leben reicht mir auch so. Du hast deine Musik und ich einen anstrengenden Job in der Agentur.«
»Und wir beide noch deine übertriebene Verantwortung für deinen Bruder. Du behandelst ihn wie ein unmündiges Kind – dein Kind.«
»Du tust mir unrecht, denn du weißt genau, dass er seit Mamas Tod nur noch mich hat. Ich muss doch für ihn sorgen.« Ninas Ton wurde scharf.
»Nein! Das musst du nicht! Ich weiß nicht, warum du es immer weitermachst. Max ist alt genug. Seit er bei uns wohnt, machst du ihm die Wäsche und viel zu oft hockt er mit uns zusammen – sofern er nicht mit seinen merkwürdigen Trinkkumpanen unterwegs ist. Wenn ich ihm andeute, dass es längst Zeit ist, selbstständig zu sein, nimmst du ihn in Schutz. Nina, begreifst du nicht, du musst irgendwann damit aufhören! Und dieser Zeitpunkt ist jetzt gekommen!«
»Aber ich kann ihn doch nicht einfach vor die Tür setzen. Warum machst du mir mit einem Mal so ein Druck? Und was ist eigentlich mit meinem Job?«
»Baby, auch diesen Job machst du doch schon viel zu lange. Du könntest erst mal ausspannen und in Rom vielleicht etwas Neues finden. Du bist total überarbeitet. Ich glaube, deine netten jungen Kollegen machen Karriere und du hilfst ihnen auch noch dabei.«
»Michi, das ist nicht wahr! Ich brauche meinen Job … Du willst mich einfach nicht verstehen. Ich muss für Max da sein. Wenn du selbst einen Bruder oder eine Schwester hättest, könntest du meine Haltung vielleicht nachvollziehen.«
»Nein, Baby, auch wenn ich Geschwister hätte, könnte ich nicht so sein wie du. Ich habe so sehr gehofft, dass du die Verantwortung für deinen Bruder irgendwann einmal wieder zurückschrauben würdest. Was ist nur mit dir los?«
»Nichts! Ich kann einfach nicht! Aber warum tust du das alles? Ich verstehe nicht, wieso du nicht vorher mit uns über deine Pläne geredet hast. Vielleicht hätten wir gemeinsam eine Lösung gefunden.«
Nina wischte erneut Tränen aus den Augen. »Ich … ich glaube, ich sollte jetzt lieber aufstehen.«
»Nina, bitte bleib hier!« Seine Stimme klang ernst.
»Es geht nicht.«
Enttäuscht sah Michael ihr zu, wie sie aus dem Bett sprang. »Du willst also jetzt wirklich gehen? Nina?«
Er hatte geahnt, dass sie zunächst mit Unverständnis auf seine Bitte reagieren würde. Auch auf einen kleinen Streit und Tränen war er im Grunde vorbereitet gewesen. Spätestens in Rom, als er den Vertrag unterschrieben hatte, war ihm bewusst, dass dieser Schritt ein Risiko bedeutete. Er hatte mit allem gerechnet, aber nicht damit, dass Nina wieder einmal weglaufen würde.
Im Vorbeieilen küsste sie ihn schnell auf die Stirn.
»Michi, das führt jetzt zu nichts. Du erwartest doch nicht im Ernst, dass ich jetzt ab sofort alles stehen und liegen lasse. Ich kann dir nicht sagen warum, aber ich kann nicht zwischen dir und meinem Bruder entscheiden. Lass uns heute Abend weiterreden. Vielleicht brauchen wir einfach nur Zeit.«
»Ja, aber ohne ihn«, sagte Michael leise. Nina hatte das Schlafzimmer verlassen. Er verschränkte die Arme unter dem Kopf und sah zur Decke. Minutenlang lag er nur da, wartend.
Er blieb allein.
Irgendwann schlurfte er in die Küche und wanderte mit einem Becher Kaffee in der Hand weiter ins Wohnzimmer. Der Anblick des demolierten Musikinstrumentes tat ihm weh, ein Sinnbild für die seit Langem zerstörte Harmonie. Tröstend, fast zärtlich strichen seine Finger über die Klaviatur und den zertrümmerten Deckel. Mit Tränen in den Augen versuchte er, einzelne kleine Bruchstücke aus dem Resonanzboden vorsichtig zu entfernen. Er wagte es nicht, eine einzige Taste der Klaviatur zu betätigen, um ihm keine weiteren Schmerzen zuzufügen, denn er wusste, dass dies nur erneut Missklänge ausgelöst hätte. Diese Qual musste ein Ende finden.
Es ergab doch alles keinen Sinn mehr!
Resigniert rief Michael einen Freund an, der ein kleines Klavierbau-Unternehmen leitete; er vereinbarte die sofortige Abholung des Flügels.
Glücklicherweise kam der mit seinen Helfern schon eine Stunde später und versprach, den Flügel nach der Reparatur bis zu seinem Anruf aufzubewahren. Als Michael zusah, wie die Männer mit starken Händen das große Instrument aus der Wohnung schleppten, empfand er eine fast unerträgliche Zerrissenheit, so intensiv, als trügen sie damit einen Teil seines Körpers hinaus. Die Leere des Zimmers erdrückte ihn. Mutlos ließ er sich auf den zurückgelassenen Klavierhocker fallen.
Lange saß er dort, das Gesicht in den Händen vergraben. Heute Abend würde dieser muskelbepackte Kerl wieder anwesend sein und ihn mit schwachsinnigen Entschuldigungen überhäufen. Wie konnte er in einer Umgebung, die nur Dissonanzen in ihm auslöste, an seiner Symphonie weiterarbeiten? Zu Beginn ihrer Ehe war er überzeugt, dass Nina zur Vernunft kommen und ihren Bruder loslassen würde. Warum hing sie nur so sehr an ihm? Und welche Rolle spielte er selbst überhaupt noch in ihrem Leben? Viele Jahre hatte er auf ein Baby gehofft und sich darauf gefreut, seinem Sohn oder einer Tochter das Klavierspielen beizubringen. Er war zuversichtlich, dass ein eigenes Kind Nina helfen würde, sich von ihrem Bruder zu lösen. Aber dieser Traum trat immer mehr in den Hintergrund, begraben unter endlosen Diskussionen, die meistens mit Streit und Tränen endeten.
Nach den Missverständnissen folgten Abende der Versöhnung und erneuter Hoffnung. Er war müde davon geworden und hatte in seiner Musik Zuflucht gefunden. Nina hatte sich immer tiefer in ihre Arbeit gestürzt. Diese Ehe zu dritt dauerte doch schon zu lange und Rom bot eine einmalige – die vielleicht letzte – Chance, etwas zu ändern, bevor alles zu spät war. Das Leben, ihre Zeit miteinander, plätscherte vorbei wie Wasser in einem Kanal. Aber der Fluss seines Lebens sollte sich doch auch durch neue Gebiete graben. Sich bei Misserfolgen verästeln und wieder zu einem stärkeren Strom zusammenfinden, um in vielen Jahren im Meer der Unendlichkeit zu münden. Aber ein Neuanfang