Endlich stand auch Rosy Kupfer auf. „Trocken“, sagte sie und zeigte Bruno ihre glänzenden und spitz zugefeilten Fingernägel.
Er nickte finster. „Dann lass uns gehen. Hoffentlich passt du heute etwas besser auf als beim letzten Mal.“
Beim letzten Mal hatte sie das Tempo des herannahenden Fahrzeugs falsch eingeschätzt und war ziemlich unsanft auf dem Asphalt gelandet. Eine schmerzhafte Beckenprellung und zwei hässliche Blutergüsse waren die Folge gewesen.
Rosy Kupfer lächelte sorglos. „Denkst du, weil ich einmal Pech hatte, habe ich es nun laufend?“
Bruno zeigte auf sie. „Du gibst auf deine Knochen besser Acht, das ist ein Befehl!“
Sie salutierte. „Yes, Sir!“
Das Pärchen verließ die Wohnung. Vor dem Haus wartete ihr Wagen auf sie, ein großer schwarzer Rover mit einer Innenausstattung aus echtem Leder und Naturholz.
Bruno hatte ihn erst vor zwei Tagen gekauft. „Hübsches Wägelchen“, sagte er grinsend und klopfte mit der flachen Hand auf die Motorhaube.
„Manche Männer lieben ihr Auto mehr als ihre Frau“, sagte Rosy abschätzig. „Ich kann das nicht verstehen.“
Bruno grinste breit. „Ich schon.“ Sie stiegen ein und fuhren los. Zwei Straßen vor dem tatsächlichen Ziel hielt Bruno den Wagen in einer Allee an. Den Rest des Weges legten sie zu Fuß zurück.
Vor der Ausfahrt eines großen Anwesens machten sie sich mit den örtlichen Gegebenheiten vertraut. Beiderseits der Fahrbahn parkten Fahrzeuge.
Rosy Kupfer zeigte auf einen Kastenwagen. „Dahinter könnte ich mich gut verstecken.“
Bruno schätzte die Entfernung zwischen Kastenwagen und Tor ab und rümpfte die Nase. „Das ist zu weit. Bis hierher hat er schon zu viel Fahrt drauf. Du musst ein paar Meter näher ran.“
„Wie wär’s mit dem Van dort?“, fragte Rosy. Es handelte sich um einen dunkelblauen Wagen.
Bruno nickte. Mit dieser Position war er einverstanden. Er schaute auf seine Armbanduhr.
„Wird Zeit, dass wir uns bereit machen. Er ist überpünktlich, wie wir in Erfahrung gebracht haben. Geh und beziehe deinen Posten. Mach’s gut. Viel Glück. Es ist heute für längere Zeit das letzte Mal. Vielleicht machen wir so etwas überhaupt nie wieder. Ich bin flexibel, und mir fällt immer etwas Neues ein.“ Er zwinkerte ihr zu. „Pass auf dich auf, Schätzchen, du wirst noch gebraucht.“ Bevor er sich umdrehte, sagte er noch: „Ich bin in der Nähe.“ Dann entfernte er sich.
Rosy Kupfer stellte sich hinter das Fahrzeug. Sie brauchte nicht lange zu warten. Wie von Geisterhand bewegt öffnete sich plötzlich das breite Tor aus kunstvoll verschnörkeltem Schmiedeeisen.
Eine große schwarze Limousine tauchte auf. Der Fahrer hinter der grün getönten Scheibe war nicht zu sehen. Rosy duckte sich und bereitete sich innerlich auf ihren Einsatz vor.
Die Limousine rollte durch das Tor, hielt kurz an, fuhr dann weiter, und Rosy zählte im Geist die Sekunden bis zum entscheidenden Sprung.
Sie schloss aus dem näher kommenden Motorgeräusch auf die Geschwindigkeit des Fahrzeugs, stellte sich darauf ein, stimmte ihre innere Uhr darauf ab.
In ihrem Kopf lief ein Film ab. Sie sah voraus, wie alles passieren würde, während die Limousine stetig näher kam. Im entscheidenden Augenblick dachte Rosy Kupfer: Jetzt!
Und dann sprang sie – furchtlos und entschlossen. Wie vom Katapult geschleudert flog sie hinter dem Van hervor, direkt vor den chromblitzenden Kühlergrill. Worauf sie achten, wovor sie sich schützen musste, wusste sie.
Die Geschehnisse entwickelten jedoch eine Eigendynamik, die sich von Rosy nicht mehr beeinflussen ließ. Von einer bestimmten Sekunde an konnte sich das Mädchen mit den roten Zöpfen nur noch auf sein Glück und auf seine robuste körperliche Konstitution verlassen. Nichts lag dann mehr in Rosy Kupfers Hand. Der größte nicht kalkulierbare Risikofaktor bei diesem waghalsigen Unterfangen war jedes Mal die Schrecksekunde des Fahrers. Wie lange brauchte er, bis er reagierte und bremste?
Bruno Pfaff beobachtete den Ablauf der Aktion aus sicherer Entfernung. Er sah Rosy vor das Auto fliegen, hörte die blockierenden Reifen quietschen, vernahm den dumpfen Aufprall ihres Körpers – und dann …
30
Es war schief gegangen. Total schief. Bruno Pfaff konnte es sich nicht erklären. Rosys Timing hatte bestens gepasst, war perfekt gewesen.
Sie hatte, aus seiner Sicht, alles richtig gemacht – und dennoch lag sie jetzt auf einem Operationstisch in der Seeberg-Klinik, und ihr Leben hing an einem hauchdünnen Faden. Bruno war konfus. Zum ersten Mal merkte er, wie sehr er an Rosy hing. Er wollte sie nicht verlieren.
Deshalb hatte er auch darauf bestanden, dass man sie nach dem „Unglück“ nicht in irgendein Krankenhaus brachte, sondern in die Seeberg-Klinik.
Seit zwei Stunden wurde sie von Dr. Seeberg operiert. Seit zwei Stunden lief Bruno Pfaff auf dem Flur im Kreis – hoffte, bangte und schwitzte.
Würde Rosy sterben? Würde sie durchkommen? Würde sie ihr weiteres Dasein mit einem bleibenden Schaden fristen müssen? Bruno sah sie im Geist in einem Rollstuhl sitzen – entstellt von hässlichen Narben.
Würde er in diesem Fall die Kraft aufbringen, bei ihr zu bleiben? Er konnte es sich nicht vorstellen. Wenn Rosy nicht mehr so war, wie er sie gemocht hatte – dann war sie doch nicht mehr sein Mädchen, dann war sie eine andere; eine, mit der er nichts mehr zu tun haben wollte.
Bruno durchsuchte seine Taschen nach einem Kaugummi. In der Innentasche seines Jacketts befand sich das Kuvert mit den Aufnahmen von Dr. Torben Lorentz, dem Chirurgen, der sich in Luft aufgelöst hatte. Bruno trug die Fotos immer bei sich, obwohl dies eigentlich nicht nötig gewesen wäre.
Er fand einen Kaugummi, riss die Verpackung auf und schob sich den hellgrauen Streifen zwischen die Zähne. „Verdammt, wie lange schneiden die noch an ihr herum?“, murmelte er, denn das Warten machte ihn völlig fertig.
Nach zweieinhalb Stunden erschien ein Assistenzarzt und teilte ihm mit, dass Dr. Seeberg die Operation erfolgreich beendet hätte.
„Wie geht es ihr?“, erkundigte sich Bruno gepresst. Er nahm den Kaugummi aus dem Mund und warf ihn in den Abfallkorb.
,,Ihr Zustand ist immer noch sehr kritisch“, sagte der Assistenzarzt.
„Aber sie wird wieder auf die Beine kommen, ja?“
Der Assistenzarzt nickte. „Sie wird es schaffen“, sagte er, aber es hörte sich nicht besonders zuversichtlich an.
„Wo ist sie jetzt?“, wollte Bruno Pfaff wissen. Er wischte seine feuchten Handflächen an den Ärmeln seines Jacketts trocken.
„Auf der Intensivstation.“
„Ich möchte sie sehen. Ist das möglich?“
Der Assistenzarzt forderte Bruno auf, ihm zu folgen. Auf der Intensivstation lag Rosy Kupfer hinter weißen Wandschirmen. Sie schlief, war angeschlossen an Maschinen und Apparate, die ihre Lebensfunktionen unterstützten und überwachten und sofort Alarm schlagen würden, wenn die Werte, die permanent gemessen und in Sekundenschnelle ausgewertet wurden, in den kritischen Bereich absackten.
Bruno bat den Assistenzarzt, ihn einige Minuten mit Rosy allein zu lassen. Ihm war heiß. Er zog sein Jackett aus und hängte es über den Stuhl, auf den er sich setzte.
„Mädchen, du musst wieder gesund werden“, murmelte er. „Aber ganz gesund. Mit halben Sachen geben wir uns nicht zufrieden.“