Erleichtert verabschiedete sich die Frau.
Kaum war sie draußen, läutete das Telefon. Sven hob ab. „Ja?“
„Chef“, sagte Schwester Gudrun aufgeregt, „ da is’n Anruf für Sie. ’ne Frau. Ick hab den Namen nich vastanden. Es scheint ihr nich jut zu jehen.“
„Stellen Sie durch!“, verlangte der Grünwalder Arzt. Es knackte in der Leitung. Dann hörte Sven jemanden am anderen Ende seufzen, ächzen und stöhnen. „Hallo!“, sagte er laut. „Hier ist Dr. Kayser!“
„Sven, ich – ich brauche Hilfe …“ Obwohl die Stimme sehr gepresst klang, glaubte er sie zu erkennen. „Nicola?“
„Ja.“
„Was ist passiert?“
„Ich bin gestürzt … Ich habe starke Schmerzen …“
„ Unterleibsschmerzen?“
„Ja. Ich habe Angst um – um mein Baby …“
„Ich komme sofort.“
„Ich bin in Torbens Wohnung.“
„Ist er denn nicht bei dir?“
„Er musste dringend in die Seeberg-Klinik. Ich bin allein.“
„Ich bin gleich bei dir“, versprach Dr. Kayser, legte auf und hastete aus dem Sprechzimmer. „Meine Bereitschaftstasche, Icke!“
„Wer war die Frau, Chef?“, fragte Gudrun Giesecke, während sie ihm die große Tasche reichte.
„Nicola“, antwortete er und sagte knapp, was geschehen war.
„Jesus, ick bete für sie, dat se ihr Baby behält“, sagte die Berlinerin, während Dr. Kayser aus der Praxis stürmte.
20
„Mach dir keine Sorgen, Nicola“, sagte Dr. Kayser eindringlich.
Die junge Ärztin saß mit schmerzverzerrtem Gesicht neben ihm auf dem Beifahrersitz. Er hatte sie in Torbens Wohnung untersucht und anschließend kurzerhand zu seinem Wagen getragen, um sie in die Seeberg-Klinik zu bringen. Es regnete in Strömen.
„Es wird alles gut“, versicherte der Grünwalder Arzt nochmals.
Nicola Sperling krümmte sich vor Schmerzen. Ihr Gesicht war kreideweiß. Sie presste die Hände gegen ihren Leib und hechelte und schluchzte. Es tat Sven weh, sie so leiden zu sehen.
„Wir sind gleich da“, sagte er. „Wir sind gleich da, Nicola. Halte durch.“
Er fuhr schnell, aber nicht zu schnell, um keinen Unfall zu verschulden. Zum Glück sprangen die meisten Verkehrsampeln auf Grün, wenn sie sich ihnen näherten. Nur an ganz wenigen mussten sie anhalten.
Der Regen klatschte schwer auf die Windschutzscheibe. Obwohl die Scheibenwischer im Schnellgang tickten, wurden sie mit den Wassermassen kaum fertig. Die Sicht war nicht optimal.
„Der Alptraum …“, röchelte Nicola.
„Ich habe dir davon erzählt … Erinnerst du dich, Sven?“
Er erinnerte sich.
„Ich war mit Torben irgendwo“, sagte Nicola undeutlich. Ihre Lippen bebten. „Wir waren glücklich und verliebt, tollten auf einer großen Wiese umher wie Kinder.“
Sie hätte es ihm nicht noch einmal zu erzählen brauchen. Er erinnerte sich ja.
„Als ich mich in einen weißen Gartensessel setzte, um kurz zu verschnaufen, spürte ich auf einmal Wärme an meinen Beinen, und als ich nach unten blickte, war alles voller Blut“, fuhr sie gequält fort. „Mein Kleid, meine Beine, der Sessel, der Boden … Ich habe in diesem Traum mein Baby verloren, Sven. Das war entsetzlich für mich. Ich erwachte weinend und war in Schweiß gebadet.“
„Wir werden alles versuchen, damit du dein Baby behältst“, versprach Dr. Kayser. Kleine Schweißtröpfchen glänzten auf seiner Stirn. Der Englische Garten kam in Sicht. Gleich darauf tauchten im rauschenden Regen die Umrisse der Seeberg-Klinik auf.
„Wir sind da“, informierte Sven die junge Kollegin. Er steuerte die Notaufnahme an. Minuten später lag Dr. Nicola Sperling auf einer fahrbaren Trage und wurde auf die Frauenstation gebracht. Dr. Kayser war bei ihr. Er hielt ihre Hand und redete beruhigend auf sie ein.
Dr. Gabriele Beyer-Horn, die Chefärztin der Gynäkologie, eilte herbei, um sich der jungen Kollegin persönlich anzunehmen. Dr. Sven Kayser assistierte. Sie taten alles, wirklich alles, damit Nicola den Embryo nicht verlor, doch hier stieß die ärztliche Kunst wieder einmal an ihre Grenzen. Es war den Ärzten trotz größter Bemühungen nicht möglich, das Ungeborene zu retten.
Als Dr. Torben Lorentz von dem tragischen Unglück erfuhr, war bereits alles vorbei. Er kam aus dem Operationssaal, hatte soeben einer jungen Frau das Leben gerettet – und wurde dafür mit dem Tod seines Babys „bestraft“.
Charlotte Besserdich, die Oberin, versuchte ihm die Katastrophe so schonend wie möglich beizubringen. Sein Gesicht wurde kalkig.
Er starrte die Zweiundfünfzigjährige entgeistert an und stammelte immer wieder fassungslos: „Nein! Nein! O mein Gott … Das darf nicht sein …“
Er stürmte davon. Als er mit weichen Knien und wie verrückt hämmerndem Herzen das Krankenzimmer betrat, in das man Nicola gebracht hatte, brach sie trotz aller sedierenden Medikamente, die sie bekommen hatte und noch – per Tropf – bekam, in Tränen aus. Dr. Kayser war bei ihr. Der Grünwalder Arzt umarmte Torben Lorentz wortlos und ging dann ergriffen hinaus.
„Torben“, schluchzte Nicola verzweifelt. „Es tut mir leid, so unendlich leid … Ich habe nicht gut genug auf unser Baby aufgepasst.“
Er hatte einen würgenden Kloß im Hals. „Nicht weinen“, flüsterte er, beugte sich zu ihr hinunter und küsste sie sanft. „Es wird alles gut.“ Auch er hätte am liebsten geweint, und er hatte große Mühe, seine Tränen zurückzuhalten. „Ich liebe dich.“ Er streichelte zärtlich ihre blasse Wange. „Wir werden auf jeden Fall heiraten, und du wirst ganz bestimmt noch einmal schwanger werden. Du bist nicht die erste Frau, der das passiert, und du wirst nicht die letzte sein. Mach dir keine Sorgen, Nicola. Wir werden eines Tages ein Kind haben und eine glückliche Familie sein.“
Als er nach zwanzig Minuten das Krankenzimmer verließ, waren seine Füße schwer wie Blei, und er sackte sichtlich in sich zusammen, sobald er die Tür geschlossen hatte und Nicola ihn nicht mehr sehen konnte.
Dr. Kayser hatte auf ihn gewartet. „Tut mir aufrichtig leid, Torben“, sagte der Grünwalder Arzt. „Gabriele und ich haben getan, was möglich war, aber …“ Er hob seufzend die Schultern.
Dr. Torben Lorentz nickte angeschlagen. Er sah den Freund und Kollegen ernst an. „Wird sie noch einmal schwanger werden können, Sven?“
Der Allgemeinmediziner und Geburtshelfer zuckte mit den Schultern. „Es steht auf der Kippe, Torben. Vielleicht. Vielleicht nicht. Das sagt auch Gabriele. Der Sturz war sehr schwer, die Verletzungen waren erheblich.“
Dr. Lorentz bekam feuchte Augen. „Wir sind nicht gerade Gottes liebste Kinder.“
„Lasst euch nicht unterkriegen“, sagte Sven Kayser. „Manchmal schlägt das Schicksal ziemlich hart zu. Ich weiß das aus eigener Erfahrung. Aber nach jedem Regen