»Darf ich Ihnen gratulieren, Madame, zu einer sehr liebenswerten Tochter?«, sagte Poirot mit einer Verbeugung.
»Rosalie? Ja, ja – sie ist recht hübsch. Aber auch sehr hart, Monsieur Poirot. Kein Mitgefühl, wenn man mal krank ist. Sie glaubt, sie weiß alles besser. Sie findet ja auch, sie weiß besser über meine Gesundheit Bescheid als ich.«
Poirot winkte einem Kellner, der gerade vorbeikam. »Einen Likör, Madame? Chartreuse? Crème de Menthe?«
Mrs Otterbourne schüttelte heftig den Kopf. »Nein, nein. Ich bin sozusagen Abstinenzlerin. Sie haben vielleicht bemerkt, dass ich ausschließlich Wasser trinke – allenfalls Limonade. Ich mag den Geschmack von Spirituosen einfach nicht.«
»Dann darf ich Ihnen einen Zitronensaft bestellen, Madame?« Für sich selbst gab er dem Kellner einen Bénédictine in Auftrag.
Die Terrassentür schwang wieder auf, und Rosalie kam mit einem Buch in der Hand zurück. »Hier ist es«, sagte sie. Ihre Stimme war tonlos – erstaunlich tonlos fast.
»Monsieur Poirot hat gerade einen Zitronensaft für mich bestellt«, erwiderte die Mutter.
»Und Sie, Mademoiselle, was nehmen Sie?«
»Nichts.« Rosalie merkte, wie schroff es geklungen hatte, und fügte hinzu: »Nichts, vielen Dank.«
Poirot nahm das Buch, das Mrs Otterbourne ihm entgegenhielt. Es steckte noch im Originalschutzumschlag mit einer grellbunten Dame darauf, die mit einem kecken Bubikopf, scharlachroten Fingernägeln und im klassischen Evaskostüm auf einem Tigerfell thronte. Über ihr ragte ein Baum mit Eichenblättern und unglaublich bunten, riesigen Äpfeln empor. Dazu der Titel: »Unter dem Feigenbaum«, sowie »von Salome Otterbourne«. Der Klappentext auf der Innenseite schwelgte vor Begeisterung über den superben gewagten Realismus dieser Studie über das Liebesleben einer modernen Frau. Die Adjektive lauteten: »Unerschrocken, unkonventionell, lebensecht«.
Poirot machte noch eine Verbeugung und murmelte: »Ich fühle mich geehrt, Madame.« Als er den Kopf wieder hob, traf sein Blick den der Tochter der Autorin, und er fuhr unwillkürlich zusammen vor lauter Überraschung und Bekümmerung über den Schmerz, den er darin sah.
Genau in diesem Augenblick kamen die Getränke und sorgten für eine willkommene Ablenkung. Poirot hob galant sein Glas. »A votre santé, Madame – Mademoiselle.«
Mrs Otterbourne nippte ihren Zitronensaft und brummte: »So erfrischend – köstlich!«
Dann saßen alle drei da und starrten schweigend hinab auf die glänzenden schwarzen Felsen im Nil. Im Mondlicht bekamen sie etwas Phantastisches; sie sahen aus wie halb aus dem Wasser ragende prähistorische Riesenungeheuer. Eine kleine Bö kam plötzlich auf und erstarb ebenso schnell wieder. Es lag etwas in der Luft – etwas Heimliches, Dräuendes.
Hercule Poirot drehte sich wieder zur Terrasse und den Gästen. Irrte er sich, oder herrschte hier dieselbe heimliche, erwartungsvolle Spannung? Es war wie im Theater, der Augenblick, in dem man weiß, dass gleich die Hauptdarstellerin die Szene betritt.
Und genau in diesem Augenblick flog wieder die Schwingtür auf, und diesmal war es, als sei das von besonderer Bedeutung. Alle hatten aufgehört zu reden und starrten auf die Tür. Heraus trat ein schlankes, dunkelhaariges Mädchen in einem weinroten Abendkleid, blieb kurz stehen, schritt dann gemessen über die ganze Terrasse und nahm an einem leeren Tisch Platz. Nichts an ihrem Verhalten war übertrieben oder abwegig, und trotzdem wirkte es wie ein wohlüberlegter Bühnenauftritt.
»Nun ja«, Mrs Otterbourne warf Kopf und Turban nach hinten, »scheint sich ja für etwas ganz Besonderes zu halten, das Mädchen!«
Poirot sagte nichts, sondern beobachtete die Szenerie. Das Mädchen hatte sich an einen Tisch gesetzt, von dem aus sie Linnet Doyle in aller Ruhe ansehen konnte. Und die, stellte Poirot fest, beugte sich jetzt vor, sagte etwas, stand einen Augenblick später auf und wechselte den Platz. Nun saß sie mit dem Gesicht in die andere Richtung.
Poirot nickte in sich hinein und dachte nach.
Etwa fünf Minuten später wechselte auch das andere Mädchen die Stellung und nahm am anderen Ende der Terrasse Platz. Dort blieb sie sitzen, rauchte und lächelte vor sich hin, ein Bild zufriedener Nonchalance. Nur ihr Blick blieb, scheinbar ganz unabsichtlich, auf Simon Doyles Frau fixiert.
Eine Viertelstunde später stand Linnet Doyle abrupt auf und ging ins Hotel. Ihr Mann folgte fast augenblicklich.
Jacqueline de Bellefort lächelte weiter und drehte ihren Stuhl. Dann zündete sie sich noch eine Zigarette an und sah, weiter in sich hineinlächelnd, hinaus auf den Nil.
Viertes Kapitel
»Monsieur Poirot.«
Poirot sprang eilig auf. Er war allein auf der Terrasse sitzen geblieben, nachdem alle anderen Gäste hineingegangen waren, und hatte in Gedanken versunken auf die schimmernden schwarzen Felsen gestarrt, als der Klang seines Namens ihn wieder zurückholte.
Die Stimme ließ auf Kultiviertheit und Selbstbewusstsein schließen, eine charmante Stimme, eine Spur arrogant vielleicht.
Gleich darauf sah er Linnet Doyle in die Augen. Ihr Blick war zwingend, sie trug einen schweren roten Samtumhang über dem weißen Satinkleid, und sie war noch schöner und majestätischer, als Poirot für möglich gehalten hätte.
»Sie sind doch Monsieur Hercule Poirot?« Es war nicht unbedingt eine Frage.
»Zu Ihren Diensten, Madame.«
»Sie wissen vielleicht, wer ich bin?«
»Ja, Madame. Ich habe von Ihnen gehört. Ich weiß genau, wer Sie sind.«
Linnet nickte. Sie hatte es erwartet. Sie fuhr in ihrer charmanten, selbstbewussten Art fort: »Würden Sie mir ins Spielzimmer folgen, Monsieur Poirot? Ich muss dringend mit Ihnen sprechen.«
»Aber sicher, Madame.«
Sie lief voran, zurück ins Hotelgebäude. Er folgte. Sie ging in das leere Spielzimmer und bedeutete ihm, die Tür hinter sich zu schließen. Dann sank sie auf einen Stuhl an einem der Spieltische, und er nahm ihr gegenüber Platz.
Ohne Umschweife kam sie zur Sache. Sie sprach flüssig und ohne zu zögern. »Ich habe sehr viel über Sie gehört, Monsieur Poirot, ich weiß auch, dass Sie ein kluger Mann sind. Und zufällig brauche ich dringend jemanden, der mir hilft – ich könnte mir sehr gut vorstellen, dass Sie dieser Jemand sind.«
Poirot neigte den Kopf. »Sie sind sehr liebenswürdig, Madame, aber sehen Sie, ich bin in den Ferien, und wenn ich in den Ferien bin, nehme ich keine Fälle an.«
»Das ließe sich sicher regeln.« Es sollte kein Affront sein – es war einfach der Hochmut einer jungen Frau, die noch immer alles zu ihrer Zufriedenheit zu regeln verstanden hatte. Im selben Ton fuhr Linnet Doyle fort: »Ich, Monsieur Poirot, bin Opfer einer unzumutbaren Schikane. Und das muss ein Ende haben! Ich wollte mich damit eigentlich an die Polizei wenden, aber mein – mein Mann findet, dass die Polizei in dieser Angelegenheit machtlos ist.«
»Wenn Sie das vielleicht ein wenig näher erklären möchten«, murmelte Poirot höflich.
»O ja, sehr gern. Die Sache ist sehr einfach.«
Noch immer stockte oder stammelte Linnet Doyle nicht, sondern sprach im Tonfall des kühlen, klaren Geschäftssinns. Sie brauchte nur eine kurze Pause, um sich zu sammeln und die Fakten möglichst bündig darzustellen.
»Bevor ich meinen Mann kennenlernte, war er verlobt mit einer Miss de Bellefort. Sie war auch eine Freundin von mir gewesen. Mein Mann hat die Verlobung gelöst, die beiden passten überhaupt nicht zusammen. Sie hat das – tut mir leid, wenn ich das so sagen muss – sehr schwergenommen. Aber es gibt leider Dinge, die sich nicht ändern lassen. Sie hat danach gewisse – nun ja, Drohungen ausgesprochen, um die ich mich jedoch wenig gekümmert habe und die sie, das möchte ich hinzufügen, auch nicht in die Tat umzusetzen versucht hat. Stattdessen hat sie sich offenbar darauf