»Da hat er sich wohl getäuscht!«
»Richtig. Ich bin doch Lehrerin geworden. Das freiwillige Jahr im Internat hat mir sehr gut gefallen. Danach bekam ich einen Studienplatz und später eine Anstellung im Gymnasium in Bamberg. Meine Wunschstadt übrigens! Was will man mehr.«
Katinka setzte den Blinker, folgte den Wegweisern. Rund um die schmalen Straßen ragten die dunklen Gipfel der Rhön auf. In der Ferne konnte man die Wasserkuppe ahnen mit der markanten Radarkuppel. Ein paar Wolken zogen sich dort zusammen. Ansonsten war der Himmel blitzblau. Mai eben.
»Aber warum hier oben?«
»Wegen der ganzen Zankerei mit den Eltern hatte ich mich recht spät beworben. Eigentlich wäre ich lieber weiter weggegangen, so wurde es die Rhön. Sehr viel mehr Stellen waren nicht mehr frei.«
»Ein Pflaster für Eisenbereifte.«
»So schlimm ist es nicht«, lachte Anja Riedeisen. »Alles war ja neu für mich. Ich hatte eine Menge Ablenkung und kam kaum zum Grübeln. Die Tage vergingen wie im Flug. Das Albertus-Magnus-Internat hatte zwei Jahre zuvor einen zusätzlichen Zweig eingerichtet. Extraförderung für Schulabbrecher, die es noch einmal probieren wollten.«
»Und da haben Sie sich verliebt?«
»In Martin Süderbeck. Kindisch, dennoch eine prägende Beziehung. Er hatte zwei Schlamperjahre hinter sich und wurde erst im Alter von 18 einsichtig. Plötzlich wollte er doch das Abitur machen. Er war schon älter als ich. Meine Schulkarriere hingegen war eine Brave-Mädchen-Chronik: schnurstracks zum Ziel.«
Katinka grinste. »Was nichts heißt.« Sie ließ den Blick schweifen. Außer dem einen oder anderen Motorrad, dessen Fahrer das Frühlingswetter genoss, waren sie allein auf der Straße. »Wie verhielt sich eigentlich Ihre Mutter zu Ihrer Idee, ein Jahr in der Rhön pädagogisch tätig zu sein?«
»Sie stand immer auf der Seite meines Vaters.« Anja seufzte. »Heißt so viel wie: Sie war dagegen. Was soll ich sagen: Ich habe mich durchgesetzt. Die Zeit hier oben tat mir gut. Endlich weg von der Enge der Familie konnte ich herausfinden, was sonst außer Gehorsam und stillem Groll in mir steckte. Ich war glücklich hier auf den windumwehten Höhenzügen, mit dem Ballast der deutschen Nachkriegsgeschichte im Rücken. Irgendwie nahm man das alles sowieso einfach hin. Die Grenze wurde schnell zur Normalität. Wir arrangierten uns damit, dass Thüringen, in das wir von der nächstgelegenen Anhöhe rüberschauen konnten, unerreichbar blieb. Wir riefen Freunde in den USA an, aber niemanden ein paar Kilometer weiter. Wir kannten da keinen. Seltsam. Einem Jugendlichen von heute kann man das nicht mehr nahebringen.«
»Es gab keine Handys. Telefonieren war teuer.«
»Und das Telefon stand an der zugigsten Stelle im Haus! Damit man sich kurzfasste.«
Ein Trupp Radfahrer in aerodynamischem Outfit rauschte ihnen entgegen, sich gegen den Wind stemmend.
»Kirsten und ich sind auch immer mit dem Rad unterwegs gewesen.« Anja deutete auf die Sportler. »Bei Wind und Wetter. Sogar im Winter.«
»Kirsten?«
Es blieb eine Weile still. »Meine Freundin. Die zweite FSJ-lerin im Internat. Wir verstanden uns super. Von Anfang an.«
Irgendetwas schwang da noch mit, fand Katinka. Trotzdem unterließ sie es nachzuhaken. Ihr Auftrag bestand darin, bei der bevorstehenden Geburtstagsfeier einer der Ordensschwestern, die vor 30 Jahren das Haus geführt hatten, Anja als vermeintliche »Freundin« zu begleiten. Anja war geschieden, ein anderer Mann als Begleitperson nicht in Sicht. Alleine zu fahren, kam ihr ebenso wenig angemessen vor. Es ging um Samstag und Sonntag in der Rhön. Das war alles. Für Katinka eine willkommene Abwechslung zu diversen anderen Aufträgen.
»Erzählen Sie mir mehr über die Nonnen«, bat Katinka. Besser, sie besann sich auf das Naheliegende. Zumal sich in ihrer Beziehung zu Hardo in der letzten Zeit ein Misston eingeschlichen hatte. Was Katinka auf eine vermurkste Ermittlung zurückführte, die bei der Bamberger Polizei für handfesten Ärger gesorgt hatte. Jemand hatte seine Kompetenzen überschritten, und ihr Lebensgefährte Harduin Uttenreuther musste den Schlamassel ausbaden. Ihr ging allmählich die Geduld aus, um seine Launen und sein rüffeliges Gehabe zu ertragen.
»Schwester Romana war stellvertretende Leiterin. Eine temperamentvolle Person voller Tatendrang. Mit ihr führte ich mein Bewerbungsgespräch. Himmel, war ich nervös! Trotz katholischer Sozialisation hatte ich zum ersten Mal mit Nonnen zu tun. Dann war da Schwester Gertrudis, die Direktorin, verantwortlich für das pädagogische Konzept. Äußerlich war sie das ganze Gegenteil von Romana. Außerdem gehörten eine Küchenschwester und eine Erzieherin dazu. Außer Kirsten, mir und den Hauptamtlichen gab es noch einen Zivi. Tobias. Ob er auch kommt?«, murmelte sie, mehr zu sich selbst.
Katinka nahm Tempo weg. Rechts am Weg stemmte sich eine Kapelle aus Sandstein gegen den Himmel, wuchtig, wehrhaft. Dahinter blühte ein Holunderstrauch, silbern glänzend vor dem stahlblauen Himmel. Die harsche Landschaft machte es einem bei diesem traumhaften Frühlingswetter leicht, in Bewunderung auszubrechen.
Den Wagen, der über die Hügelkuppe auf sie zuschoss, sah sie beinahe zu spät. Sie wandte ihren Blick erst wieder der Straße zu, als sie Anjas lautes Schreien hörte. Riss das Steuer herum. Gab Lichthupe.
»Verdammt, ist der meschugge?« Sie lenkte den Italiener ganz nach rechts, spürte groben Untergrund unter den Reifen. Das Steuerrad umklammernd hielt sie die Spur.
Der Sportwagen, ein superflaches, schwarzes Modell, röhrte vorbei. Sie erhaschte gerade noch einen Blick auf das höhnische Grinsen des Fahrers.
»Honk!« Katinka schaltete die Warnblinkanlage an und hielt. »Frau Riedeisen?« Vorsichtig berührte sie ihre Klientin an der Schulter. Die zuckte zurück, hob sogar den Arm, als müsste sie sich verteidigen. »Es ist nichts passiert! Wir sind nicht im Graben gelandet.«
Anja presste die Hände vors Gesicht. Ihr Schreien war in ein dünnes Wimmern übergegangen.
Katinka wartete. Diese Frau brauchte ein wenig Zeit. Und sie hatte vor etwas Angst. Jedoch nicht unbedingt vor dem Zusammentreffen mit ihrer ersten Liebe vor 30 Jahren.
*
3.
»Albertus-Magnus-Zentrum«, stand auf einem Hinweisschild, daneben ein größeres mit der Aufschrift: »Zur Fremdsprachenkorrespondentenschule«.
»Sieh an. Früher hieß es nicht Zentrum«, sagte Anja Riedeisen lächelnd.
Katinka bog auf die schmale Zufahrtsstraße. Zwei mehrstöckige neobarocke Gebäude erhoben sich am Waldrand, Sandstein, warm in der hellen Frühlingssonne leuchtend. Frisches Grün hatte sich noch kaum in den Wald verirrt, dafür sorgten die auf einer Wiese vor dem linken Haus geparkten Autos für Farbflecke.
»Meine Güte! Hier hat sich fast nichts verändert! Das linke Haus war das, wo die unteren Klassen wohnten. Auch die Schwestern und wir als Freiwillige hatten dort unsere Zimmer. Ich frage mich, ob sie wenigstens die gruseligen Badezimmer renoviert haben.«
»Es sind 30 Jahre vergangen«, warf Katinka ein. »Da muss man schon mal ein Fenster auswechseln. Ich weiß, wovon ich rede.« Sie dachte an die unbezahlten Rechnungen von ihren letzten Renovierungsarbeiten. Alles in allem kam ihr dieser Auftrag entgegen. Leicht verdientes Geld mit einem gewissen Freizeitfaktor.
»Da haben Sie recht.«
»Wer wohnte in dem rechten Gebäude?«
»Die älteren Schüler und ein Ehepaar. Beide waren als Pädagogen tätig.«
»Soweit