Waldi Waldbauer wunderte zum Glück nichts mehr, dazu war er schon zu lange in diesem Geschäft und kannte außerdem Leopold viel zu gut. Er nickte nur stumm und trat mit steinerner Miene seinen Dienst an.
Leopold hingegen ging noch zu einer ominösen großen Lade, die sich links neben den Billardtischen befand, und kramte darin herum. Es war seine geheime Schatztruhe, sein Heiligtum, in dem er Dinge aller Art und für jeden Zweck verborgen hielt. Obwohl die Lade stets unverschlossen war, konnte sich niemand daran erinnern, dass sie schon einmal jemand außer Leopold geöffnet hatte. Nun zauberte er zwei Paar Handschuhe daraus hervor. Eines davon drückte er Berger in die Hand.
»Das werden Sie brauchen«, sagte er. »Erstens ist es noch ganz schön frisch draußen und zweitens sollten wir keine Fingerabdrücke am Tatort hinterlassen!«
3
Wen wundert’s, dass Herr Berger das Haus, in dem seine Kostgeberin zu Tode gekommen war, mit schlotternden Knien betrat? Zum einen hatte er noch nie so überraschend und unverhofft eine Leiche zu Gesicht bekommen. Zum anderen strahlen alte Häuser, wenn es sich nicht gerade um ein Stadtpalais oder ein romantisches Herrenhaus, sondern um einen von den Jahren gezeichneten Zeugen billigen Wohnbaus aus der Wende zum zwanzigsten Jahrhundert handelt, eine eher düstere Atmosphäre aus.
Auf Berger wirkte das alte Gemäuer jetzt noch furchterregender als sonst. Im Eingangsflur und dem engen Stiegenhaus mit der gewundenen Treppe war es so dunkel, dass das schwache künstliche Licht zu jeder Tages- und Nachtzeit aufgedreht bleiben musste. Ein abgestandener Geruch, der durch die feuchten Wände noch verstärkt wurde, raubte denjenigen, die nicht hier wohnten, schon beim Hineingehen den Atem. Zurzeit roch es außerdem zusätzlich nach Kohl und Knoblauch.
Trotz all dieser Widerwärtigkeiten erreichten die beiden Herren unbeschadet den ersten Stock, wo sich die Wohnung von Frau Niedermayer befand.
»Ich will nicht noch einmal hineingehen«, murrte Berger.
»Sie können ja im Vorzimmer stehen bleiben, aber jetzt machen S’ bitte einmal auf«, erwiderte Leopold ungeduldig. Er konnte es nicht erwarten, einen geradezu jungfräulichen Tatort vor sich zu haben. Außerdem war ihm in dem dunklen, engen Gang wohl auch ein wenig mulmig.
Ein wenig zitternd nahm Berger den Wohnungsschlüssel hervor und schloss die Türe auf. Während Leopold kurz den kleinen Vorraum musterte und das Licht aufdrehte, blieb er nahezu unbeweglich hinter der Türe stehen.
»Wenn Sie wirklich nicht weiter gehen wollen, dann sagen Sie mir wenigstens, wo sie liegt«, brummte Leopold.
»Im Wohnzimmer«, kam es leise von Bergers Lippen.
Die Tür zum Wohnzimmer lag rechter Hand. Sie führte in einen einfach eingerichteten Raum mit einem Tisch und einer kleinen Sitzecke, einem Fernsehapparat, einer Zimmerpflanze, einem Wandschrank und einigen Regalen, auf denen Bücher und Zeitschriften gestapelt waren. Zwischen dem Schrank und den Regalen befand sich die Tür zum Schlafzimmer. Vor dem Schrank lag die Tote. Der Kopf war leicht zur Seite gedreht, und so sah Leopold sofort die Wunde am Hinterkopf, die den Tod herbeigeführt hatte. Der Teppich war voll Blut.
Leopold schüttelte den Kopf. »So ein schönes Nachthemd zum Sterben anziehen ist ja die reinste Verschwendung«, murmelte er.
Er vermutete, dass der gewaltsame Tod eingetreten war, als Frau Susi sich gerade zu Bett begeben wollte. Die Türe war nicht aufgebrochen worden. Also hatte der Mörder einen Schlüssel wie Herr Berger, oder Susi hatte ihn noch herein gelassen. Das alles musste sich sehr spät zugetragen haben, denn Susi hatte ja erst um halb zwölf das Kaffeehaus verlassen. Aber wann genau?
Neben dem Fernsehapparat lag eine aufgeschlagene Programmzeitschrift. Am Montag, dem 6. November, waren mehrere Sendungen unterstrichen, zwei Gameshows und einige Dokumentationen. Eine dieser angezeichneten Dokumentationen hieß ›Metropolen der Welt: Chikago‹ und war als Wiederholung von 0.30 Uhr bis 1.15 Uhr gelaufen.
Immerhin etwas. Möglicherweise hatte sich Susi Niedermayer diese Sendung noch angesehen, ehe – oder während – sie auf ihren Mörder getroffen war. Die Leiche lag jedenfalls schon länger da, und außerdem war ein gewaltsamer Tod im Morgengrauen statistisch eher unwahrscheinlich.
Erst jetzt fiel Leopold der eigenartige Geruch auf. Es roch in der Wohnung nach Rauch, wenn auch nur schwach. Zuerst hatte er es gar nicht richtig wahrgenommen. Seine Nase war an die verrauchte Kaffeehausluft so gewöhnt, dass ihm dieser leichte Geruch nach Zigarettenrauch gar nicht aufgefallen war. Aber jetzt merkte er es umso deutlicher: Hier hatte jemand geraucht, und er glaubte nicht, dass es Frau Susi gewesen war.
»Herr Berger, haben Sie die Frau Susi jemals rauchen gesehen?«, rief Leopold ins Vorzimmer.
»Nicht, dass ich wüsste«, kam es trocken von dort zurück. »Wann rufen Sie endlich an? Das Telefon steht neben dem Fernseher.«
»Gleich, Herr Berger, gleich! Ich kann nicht zaubern«, sagte Leopold. Dann warf er einen Blick ins Schlafzimmer und entdeckte auch hier Seltsames. Links über dem breiten Doppelbett, dessen Sinn Leopold jetzt nur mehr durch eine gewisse körperliche Verbreiterung bei Frau Susi begründet sah, das aber früher einmal beiden Schwestern als Schlafstatt gedient haben mochte, hing die eingerahmte Fotografie einer weiten Prärielandschaft. Der Platz rechts daneben war frei, eine etwa 50x70 cm große Fläche, bei genauerer Betrachtung heller als der Rest der Wand. Was auch immer dort gehangen hatte, hing jetzt nicht mehr da.
Das Bett selbst war unberührt. Frau Susi hatte sich also noch nicht schlafen gelegt, als sie umgebracht wurde.
»Kommen Sie, Leopold, rufen Sie an!«, klang es ungeduldig aus dem Vorzimmer.
»Jetzt beruhigen Sie sich doch, Herr Berger, und beantworten Sie mir noch eine Frage: Wie viele Bilder hängen für gewöhnlich über dem Bett der Frau Susi?«
»Ach, Sie meinen die zwei komischen Fotos? Da ist das eine, das einmal jemand von ihr und so einem Kerl mit Cowboyhut gemacht hat – furchtbar geschmacklos – und das andere, das … das …«
»Von der Prärie?«
»Von der Prärie, genau. Was soll diese Fragerei?«
»Sie werden schon sehen, Herr Berger, alles hat seine kriminalistische Notwendigkeit. Und noch etwas ist wichtig: Wie gründlich war immer aufgeräumt, wenn Sie zum Mittagessen gekommen sind?«
»Mir tut es langsam schon leid, dass ich Sie überhaupt bemüht habe, Leopold. Sie scheinen ja gar nicht an den Anruf zu denken! Aber bitte. Die Frau Susi war keine schlampige Person, wenn Sie das meinen, sie hat schon auf sich und die Wohnung geschaut. Nicht übertrieben allerdings.«
»Es lag also ab und zu etwas herum?«
»Ja, sicher! Aber das hat nicht weiter gestört. Mich zumindest nicht.«
Und jetzt lag nichts herum außer der Leiche. Alles sah blitzblank zusammengeräumt aus. Der Täter hatte sich reichlich bemüht, alle Spuren zu verwischen. Wie gut ihm das gelungen war, würden die Leute von der Spurensicherung herausfinden. Jedenfalls handelte es sich um eine gründliche Person, und es war einstweilen völlig unklar, ob etwa Geld oder Wertgegenstände fehlten. Eine Tatwaffe war natürlich auch nirgendwo auszumachen.
Leopold durchquerte den Vorraum, sagte automatisch:
»Gleich, Herr Berger, gleich«, und warf noch rasch einen Blick in die Küche. Dort herrschte schon ein wenig mehr Unordnung. Schmutziges Geschirr stand im und neben dem Abwaschbecken. Leopolds Augen suchten nach irgendetwas, einem Aschenbecher, zwei Kaffeeschalen oder zwei Gläsern, den Überresten eines – wenn auch noch so kurzen – Beisammenseins, das dann mit einem gewaltsamen Tod geendet hatte. Aber nichts deutete mit Bestimmtheit auf ein solches Beisammensein hin. Der Täter war also auch in dieser Hinsicht sehr gewissenhaft gewesen, oder Leopold lag einfach falsch mit seiner Vermutung.
Er öffnete den Kühlschrank. Wurst, Käse, Milch,