Sie hatte den selbstfahrenden Wagen am Bild sofort erkannt. Ein Wunder, dass das noch keiner ihrer Kollegen aufgegriffen hatte. Aus ihrem Bauchgefühl heraus, ohne lange nachzudenken, veröffentlichte sie auf Twitter folgende Frage: »Wurde Wolfgang Steinrigl von seinem selbstfahrenden Auto in den Tod katapultiert?« Wenn sie ein wenig länger darüber nachgedacht hätte, hätte sie sich diese Frage wohl besser verkniffen und zuerst einmal versucht, mit Paul abzuklären, ob sie tatsächlich eine Mitschuld an dem Tod Steinrigls haben konnte. Aber Paul wollte sie mit so etwas nicht via Signal-Nachricht konfrontieren. Klar, der Messenger galt als supersicher und sie hatten sich schon oft über Hacks auf diesem Weg ausgetauscht und es war noch nie etwas passiert. Aber jetzt betraf es SIE. Sie könnte möglicherweise in einen Mord verwickelt sein. Oder war es ein unglücklicher Unfall gewesen?
Unfälle mit teilautonomen Fahrzeugen hatte es in der Vergangenheit schon mehrere gegeben, das wusste Stefanie. Sie hatte das immer wieder gespannt mitverfolgt. Vor ein paar Jahren war etwa ein 38-Jähriger ums Leben gekommen, dessen Tesla gegen eine Leitplanke gefahren war. Das Auto hatte Feuer gefangen und der Fahrer hatte nicht überlebt. Natürlich hatten Autokonzerne damals immer dem Fahrer die Schuld gegeben. Schließlich hätte er nicht die Hände vom Lenkrad nehmen dürfen, hieß es. Aber beim neuen Nexus Alpha spielte das jetzt keine Rolle mehr. Der war genau so konstruiert, dass er völlig selbstständig fahren konnte und der Autobauer übernahm in der Regel die volle Haftung für Schäden oder Unfälle. Stefanie war daher, auch abseits der quälenden Fragen, ob sie selbst etwas damit zu tun gehabt haben könnte, sehr gespannt, wie sich die Causa Steinrigl und Nexus Alpha entwicklen würde. Sie war so gespannt, dass sie die Finger nicht von ihrem Smartphone lassen konnte, und nachsah, was sich im Netz getan hatte.
Mit ihrer Twitter-Frage hatte Stefanie eine wahre Welle an Diskussionen ausgelöst. Ihre Kurzmitteilung wurde tausendfach weiterverbreitet und Hunderte Menschen, von denen sie viele nicht kannte, antworteten ihr. Geduldig scrollte sie sich auf ihrem Handy durch die zahlreichen Kommentare in der Hoffnung, dass sich darunter auch einer fand, der ihr vielleicht weiterhelfen konnte. Schließlich war sie mit zahlreichen Sicherheitsforschern auf Twitter befreundet. Doch von diesen hatte sich vorerst keiner an der Diskussion beteiligt. Stattdessen hatten politikinteressierte Menschen geantwortet, die sich mehr für die Person Steinrigls interessierten als für selbstfahrende Autos. Der Tod des Ministers bewegte eben sehr viele Menschen emotional.
Stefanie hatte in der Eile übrigens völlig vergessen, die Ortungsdienste auf ihrem Smartphone abzudrehen. Das hieß: Ihre Kurzmitteilung auf Twitter war mit der Ortsangabe »Placa Reial, Barcelona« versehen. Derartige Ortsangaben drehte die technikaffine Journalistin, die sehr auf ihre Privatsphäre bedacht war, ausschließlich im Urlaub auf, und zwar aus praktischen Gründen. Sie nutzte die Funktion, um ihre Fotos später auf ihrem Computer besser zuordnen zu können. Jetzt aber konnte die ganze Welt sehen, dass sie gerade in Barcelona war. Und die tausendfach geteilte Nachricht, die es zu späterer Stunde auch noch in die TV-Nachrichten schaffte, konnte sie jetzt auch nicht mehr löschen. In diesem Moment fiel es der 33-jährigen Redakteurin allerdings gar nicht auf. Erst als einer ihrer Leser auf Twitter Stunden später mit der Frage: »Barcelona? Nice! Wünsche eine schöne Zeit« reagierte, bemerkte Stefanie, dass sie die Ortsangabe aktiviert hatte, und drehte diese für die nächsten Tweets gleich ab. Sie schaltete außerdem das akustische »bling bling«, das mit jeder neuen Reaktion auf ihren Tweet folgte, relativ rasch wieder ab, als die ersten Gäste von den Nachbartischen aufmerksam zu ihr rüberblickten.
Schon bald titelte die erste Online-Zeitung in Österreich: »Killermaschine Flexus Alpha«, eine weitere: »Roboter-Auto brachte Finanzminister um«. Technik-Feindlichkeit war in vielen Redaktionen noch immer weit verbreitet. Schließlich waren aus der Sicht vieler Chefredakteure auch die Social- Media-Dienste schuld daran gewesen, dass die Bedeutung ihrer Medien immer weiter sank. Die böse Technikbranche kostete sie Umsatz und Reputation. Vor allem in den Redaktionen, in denen es noch Herausgeber jenseits der 70 gab, die das Ruder einfach nicht aus der Hand geben wollten, wurde massiv Stimmung gegen alles, was mit Robotern zu tun hatte, gemacht. Die Roboter kosteten schließlich auch Jobs und waren deshalb sowieso böse. Und Technikfeindlichkeit kam im Land immer gut an. Nicht umsonst zählte Österreich seit Jahren innerhalb der EU zu den Ländern mit den meisten Skeptikern, was neue technische Innovationen betraf. Da hatte auch kein wirtschaftsliberaler Finanzminister, der zahlreiche Erleichterungen für Start-ups beschlossen hatte, die Stimmung im Land bisher auf Dauer ändern können. Unter den jüngeren Journalisten war dies freilich etwas anders, doch die hatten in den Redaktionen meist noch nicht das Sagen, sondern mussten widerwillig zur Kenntnis nehmen, was ihre Chefredakteure für eine Blattlinie verfolgten.
Bei »24 Stunden«, dem Blatt, bei dem Stefanie Laudon arbeitete, war das freilich ein wenig anders. Die Qualitätszeitung war eine der ersten in Österreich, die online auf eine Kooperation mit Facebook gesetzt hatte. Das brachte am Ende nicht nur fette Zugriffe und damit schöne Statistiken für die Werbeindustrie, sondern auch viel Geld. Stefanie hatte diese Kooperation initiiert, auch wenn sie selbst sehr skeptisch bei dem Gedanken war, die Leser der Zeitung damit in die Fänge einer einzigen großen, kommerziellen Firma zu treiben. Einer Firma, die dann praktisch im Alleingang bestimmen konnte, welche Inhalte auf welche Art und Weise angezeigt und platziert wurden. Nichtsdestotrotz überwogen für das Medienhaus klar die Vorteile. Und Stefanie war jung und clever genug, um hier mitzuspielen und die Vorteile zu erkennen, die derartige Kooperationen mit sich brachten. Sie kannte sich mit technischen Dingen irrsinnig gut aus. Es wurde ihr praktisch in die Wiege gelegt, denn ihr Vater war Informatiker und lehrte sie schon in jungen Jahren das Programmieren. Die Journalistin erinnerte sich daran, wie sehr ihr das spielerische Arbeiten am Rechner Spaß gemacht hatte. Sie hatte ihre Kenntnisse auch noch weiter vertieft, als sie älter war. Für ein Informatikstudium hatte ihr dann allerdings doch ein wenig die Leidenschaft gefehlt. Sehr zur Enttäuschung ihres Vaters, der sie gerne als seine Nachfolgerin in der Firma etabliert hätte. Aber Herr Laudon hatte immer akzeptiert, dass seine Tochter ihren eigenen Kopf hatte. Aufzwängen wollte er ihr nie etwas. Gelernt hatte die Journalistin von ihrem Vater allerdings trotzdem wirklich viel. Zu ihrem früh erworbenen Wissen zählte etwa auch, dass man immer gewisse Tools einsetzen sollte, um seine Online-Aktivitäten zu verschleiern. Nur ihre Freundin Meggie weigerte sich bisher konstant, auf den verschlüsselten Messenger, den sie mit dem Großteil ihrer Freunde, Bekannten und Informanten gleichermaßen zur mobilen Kommunikation einsetzte, zu wechseln. Ihr Problem, dachte sich Stefanie. Dabei wäre es doch so einfach, zu wechseln.
Das Smartphone wollte an diesem lauen Abend in Barcelona einfach nicht mehr verstummen. Die grauenvolle Paella war mittlerweile abserviert und die Journalistin hatte vom Kellner die Rechnung verlangt. Die turnende Männerschar war bereits weitergezogen und am Platz kehrte langsam ein wenig Ruhe ein. Die meisten Touristen zogen sich jetzt in eine der zahlreichen Bars, die es in der näheren Umgebung gab, zurück oder verschwanden nach langen Sightseeing-Tagen schlichtweg in ihre Hotels. Am Tisch vor Stefanie vibrierte es erneut. Jetzt, kurz vor 23 Uhr, schrieb ihr auch endlich die eigene Redaktion eine Nachricht.
»Steinrigl tot, autonomes Auto involviert – wie schnell kannst du hier sein?«
Stefanie wetzte ungeduldig auf ihrem Stuhl herum. Eine innere Unruhe durchströmte ihren Körper. Was tun? Zurückfliegen oder abschalten? Eigentlich hätte sie noch drei weitere Tage in dieser wunderschönen, aber doch sehr von Touristen überlaufenen Stadt verbracht. Der Todesfall Steinrigl interessierte sie aber aus journalistischer Sicht sehr. Sie war neugierig: War es ein Unfall, war es ein technischer Defekt oder war es Mord? Hatte das Lobbying der Autoindustrie etwas damit zu tun? Oder gar sie selbst und ihr unerlaubtes Eindringen in das System? Alles war möglich! Ihr Herz schlug schneller, als sie an diese Fragestellungen dachte und wie sie diese aufarbeiten würde. Da gab es eigentlich nichts mehr zu überlegen. Sie schrieb ihrem Chef eine E-Mail, um ihm mitzuteilen, dass sie es bis morgen Mittag zurück nach Wien schaffen könnte. Dann rief sie bei der Airline an, um ihren Flug