»(K)« (Kuss), schrieb er ihr zurück mit einem Emoticon.
Und: »Trink nicht zu viel ohne mich!«
Paul starrte noch eine Weile auf sein Handy, bevor er sich wieder seinen Aufgaben im Hackerspace zuwandte, aber Stefanie schrieb nicht mehr zurück. Sein Smartphone blieb still.
Kapitel 1
November 2022
»Sofort verkaufen!«, schrie Wolfgang Steinrigl als letzte Worte geschäftig in die Freisprechanlage seines Android-Telefons, bevor er gleich darauf auflegte. Eigentlich brauchte er die Kopfhörer zum Telefonieren schon lange nicht mehr. Als er vor zwei Jahren zum Finanzminister angelobt worden war, hatte er lange Zeit einen Chauffeur. Bis er vor drei Monaten sein Auto wechselte. Es gab ein großes Medienecho, als er auf die selbstfahrende Kutsche umstieg, eine von dreien in ganz Österreich. Die anderen beiden gehörten ebenfalls Millionären, wie er einer war – mit dem Unterschied, dass diese im Gegensatz zu ihm mit Politik rein gar nichts am Hut hatten. Seine Parteifreunde in der Konservativen Familien Partei (KFP) waren ebenso wenig von seinem Umstieg auf den Flexus Alpha begeistert wie seine Minister-Kollegen des Koalitionspartners. Vor allem den grünen Technologieminister wollte Steinrigl mit dem Kauf seines Flexus Alpha ärgern. Der setzte doch tatsächlich weiterhin auf Carsharing-Modelle mit E-Autos! Dabei hatte der Öko-Freak bereits mehrfach wichtige berufliche Termine verpasst. Einmal, weil er kein freies Auto gefunden hatte, einmal, weil sein E-Auto kurz vorm Ziel liegen geblieben und die Ladestation außer Betrieb war und einmal, weil die Anzeige, wie viele Kilometer ohne Stromtanken noch übrig waren, defekt war. Wie oft war Karl Schlögerl schon zum medialen Gespött geworden deswegen! Wie oft hatte er versucht, die Medienberichte über ihn zu unterbinden. Jedes Mal hatte sich Steinrigl fast zu Tode gelacht darüber.
Einem Steinrigl dagegen machten Schlagzeilen wie »Finanzminister zum Beifahrer degradiert!« nichts aus. Vor allem dann nicht, wenn sie von dieser Emanze Stefanie Laudon stammten und in dem selbst ernannten Qualitätsblatt »24 Stunden« abgedruckt waren. Hauptsache, die beliebte »Heute Mittag« feierte seinen neuen autonomen Spitzenwagen ordentlich ab. Die Journalisten von dort hatte er auch vorab zu einer Testfahrt eingeladen. Und sie hatten es ihm gedankt mit einem wohlwollenden Bericht. So funktionierte das in Österreich seit Jahren. Erfolgreich.
Sein Flexus Alpha, der konnte sich nämlich sehen lassen. Weiß war er, passend zu seiner weißen Weste, sagte sich Steinrigl beim Kauf. Oben am Dach befand sich ein 360-Grad-Laser, der die gesamte Umgebung im Umkreis von 100 Metern scannen konnte. Daneben war ein Mikrofon verbaut, das Umgebungsgeräusche sowie Sirenen herannahender Einsatzfahrzeuge hören konnte. Vorne waren links und rechts Distanzsensoren und Kameras angebracht sowie ein Radargerät. Vom integrierten GPS-System brauchte Steinrigl sowieso gar nicht zu reden. Aus der Kombination Sensordaten und Straßenplan wusste das Auto zudem immer ganz genau, wo es war und an welchen Objekten es gerade vorbeifuhr. Es konnte sowohl Straßenschilder korrekt lesen als auch berechnen, was andere Verkehrsteilnehmer als Nächstes zu tun gedachten. Sein Auto, das war die Zukunft. Und er war einer der Ersten, die damit in Österreich fahren durften. Er fuhr sogar extra nach Kalifornien, um den Spitzenwagen dort Probe zu fahren, bevor er ihn nach Österreich importierte.
Die lokale Noofle-Vertretung hatte ihm dabei geholfen, denn es lag auch in ihrem Interesse, dass autonome Autos sich rasch überall in der Welt verbreiteten. Noofle hatte intensiv mit allen Mitteln daran gearbeitet, Österreich zum »Vorzeigeland« für autonome Autos zu machen. Während die Bemühungen bei Steinrigl durch diverse Vergünstigungen beim Flexus Alpha-Import aus den USA sofort von Erfolg gekrönt waren, musste der US-Konzern jedoch rasch erkennen, dass der Technologieminister nicht so einfach zu überzeugen war. Zu groß waren seine Bedenken, dass damit der US-Autoindustrie ein Vorsprung verschafft werden würde, weil die Europäer noch nicht ganz so weit waren. Gegen die Technologie selbst hatte freilich auch der Technologieminister nichts einzuwenden. Ihm ging es letztendlich vor allem darum, etwas Zeit zu gewinnen. Zeit für die europäischen Autobauer.
Die Regierung hatte daher äußerst lange über die Förderungen und Freigabe von Teststrecken für autonome Autos verhandelt. Auch wenn sich der Slogan »Österreich als Vorzeigeland für autonome Autos« recht gut anhörte, kam es nicht sofort zu einer Einigung, denn die Bundesländer kämpften regelrecht darum, Erster zu werden. Die erste Zone für Tests befand sich letztendlich auf der A2 zwischen Graz-West und der Laßnitzhöhe in der Steiermark. Doch das Bundesland Oberösterreich folgte bereits in der zweiten Welle. Das freute Steinrigl, den gebürtigen Oberösterreicher aus St. Mergen im Attergau, besonders. Und es nützte seiner Heimatgemeinde ungemein. Genauer gesagt seinem Freund Hansi Huber. Der besaß einen Technologiebetrieb, der von den neuen Aufträgen enorm profitierte. Sein Lobbying, das über diverse externe Beraterfirmen gelaufen war, damit man nicht nachvollziehen konnte, wer dahinter steckte, war hier sehr erfolgreich gewesen. Und es war zu seiner großen Freude geheim geblieben. Was wäre das für ein Skandal gewesen, wenn das rausgekommen wäre! Auch wenn an und für sich gar nichts dabei war, wenn man ein bisschen nachhalf, bei den Förderungen von bestimmten Firmen. Oder?
Seit 1. November 2022 waren dank einer Gesetzesnovelle autonome Autos endlich auf den Straßen Österreichs zugelassen. Und Steinrigl war nun einer der Ersten, die mit einem derartigen Fahrzeug unterwegs waren. Davor hatte er schon mit einigen Modellen das freihändige Fahren auf der Autobahn ausprobiert, das seit Mitte 2019 zugelassen war. Was war das für ein Hochgenuss gewesen! Er hatte bei 120 km/h beobachtet, wie die Landschaft an ihm vorbei gezischt war und er hatte den Kühen beim Weiden zugesehen, wie wenn er mit seinem Chauffeur unterwegs gewesen wäre. Aber pssst… Eigentlich hätte er damals strikt auf die Straße sehen müssen, das war Vorschrift. Um den Mund Steinrigls bildeten sich Falten. Er lächelte. Jetzt verzichtete er freiwillig auf seinen Chauffeur, dessen Job durch das neue Auto praktisch wegrationalisiert worden war. Um den tat es ihm am Ende fast leid, denn Markus Kummer war ein guter Mann. Er war immer pünktlich, höflich, nie aufdringlich und sehr dezent gewesen. Auch wenn Steinrigl manchmal eine andere Dame als seine Ehegattin in seinem Dienstwagen mitnahm (was ab und zu vorkam), machte Kummer nie irgendeine Bemerkung. Er verhielt sich diskret. Und er konnte gut zuhören. So manches Mal sah er Dinge viel klarer, nachdem er sie Kummer anvertraut hatte.
Jetzt aber saß Steinrigl alleine in seinem Auto. Mit seinen Gedanken war er noch bei dem wichtigen Telefonat von vorhin. Draußen war es nebelig und schon fast finster. Es hatte zwischen null und ein Grad und der Nebel gefror auf dem Boden. Bei diesen Verhältnissen war Steinrigl besonders dankbar dafür, dass er nicht mehr selbst fahren musste. Es herrschte Glatteisgefahr. Steinrigl war am Heimweg einer wichtigen Fachtagung, bei der er eine flammende Rede zum Thema »Mehr privat, weniger Staat« gehalten hatte. Er wollte noch rasch einen kurzen Abstecher zu seinem zwei Jahre jüngeren Bruder Thomas machen. Thomas war sein Sorgenkind. Er hatte ihm vor ein paar Wochen geschrieben, dass er einen Teil seines Grundstücks verkaufen müsse, weil er seinen Millionen-Kredit nicht zurückzahlen konnte. Die Geschichte wollte er sich persönlich anhören. So hatte der Hof doch jahrelang fette Gewinne gemacht. Warum waren da jetzt plötzlich so hohe Schulden da? Wirklich wegen der paar Melk-Roboter für den Stall? Da musste seinen Bruder wohl einer grundlegend falsch beraten haben! Es taugte also nicht jede neue Technologie etwas. Steinrigl war tief in seine Gedanken versunken.
Das selbstfahrende Auto fuhr mit knapp 98 Stundenkilometern über die Bundesstraße, als das Auto plötzlich abrupt nach links ausbrach. Der Finanzminister zuckte zusammen und starrte auf den Bildschirm vor ihm. Am Display blinkte ein violettes Strichmännchen auf. Diese grafische Darstellung bedeutete so viel wie »ein Mensch ist im Weg«. Aber aufgrund der Dunkelheit