Helena biss sich auf die Lippen und schluckte eine patzige Antwort hinunter. Ihr Vater war kein Nichtsnutz. Mutters Tod hatte ihn aus der Bahn geworfen. Das war alles. Ob Siegfried wohl ohne seine ältere Schwester zurechtkam? Bevor sie weiter darüber nachdenken konnte, bugsierte Agnes sie ins Haus. Die Frau führte Helena durch die Eingangshalle, in deren Ecke ein Kaminfeuer prasselte. Hier empfing Cuntz Gäste und Händler. Zwei Türen, eine rechts, eine links, führten in die angrenzenden Räume. Cuntz, der ihnen gefolgt war, verschwand ohne ein weiteres Wort durch die rechte Tür, wo über eine Treppe ins Obergeschoss die Schreibstube und die Schlafräume der Familie Wengerter zu erreichen waren. Agnes schritt voran, öffnete die linke Tür, hinter der sich die Küche verbarg.
An der rechten Küchenwand befand sich die Luke eines Kachelofens, der die nebenan liegende Wohnstube mit Wärme versorgte. Ein eiserner Kessel hing an einer Kette über dem Herdfeuer in der Ecke, der über eine Zugvorrichtung nach oben gezogen oder nach unten gelassen werden konnte. Daneben ragte der Kaminschlot empor, um den Rauch aus der Küche zu entlassen. Die Mitte der Küche nahm ein riesiger Holztisch ein, die Wand links gegenüber dem Ofen war größtenteils bis unter die Decke mit Holzgestellen bestückt, auf denen Töpfe, Krüge und Gefäße mit Schmalz, getrockneten Hülsenfrüchten und Salz Platz gefunden hatten. Daneben gab es ein zweiteiliges Fenster, das den Blick auf den Hof freigab. Die Tür gegenüber dem Kücheneingang führte in die Wohnstube.
Der Geruch des Eintopfs aus Erbsen, Gerste und Speck, der im Kessel vor sich hin brodelte, stieg Helena in die Nase, und der nagende Hunger verursachte ihr eine leichte Übelkeit.
Eine ältere Magd saß auf einem kleinen Schemel in der Nähe der Herdstelle und rupfte ein Huhn. Vier weitere lagen schon ihres Federkleids beraubt neben ihr auf dem Boden.
»Magda, das ist Helena, sie wird dir und den anderen Mägden ab jetzt zur Hand gehen. Aber gib ihr erst mal noch einen Teller Eintopf und ein Stück Brot«, bat Agnes. »Benimm dich anständig, Mädchen. Widerworte werden nicht geduldet. Du tust, was man dir aufträgt«, wandte sie sich an Helena. »Verstanden?«
»Ja, Herrin.«
»Gut. Hier auf dem Weinberg gibt es viel zu tun, wir arbeiten vom Morgengrauen bis nach Anbruch der Dunkelheit. Dafür bekommst du einen trockenen, warmen Schlafplatz und jeden Tag drei Mahlzeiten.«
Drei Mahlzeiten. Helena schickte ein stummes Dankgebet gen Himmel, dass Gott sie hierhergeführt hatte. Oder wohl eher das Pech ihres Vaters beim Würfelspiel.
»Und Magda«, fügte Agnes hinzu, »sieh nach, ob du ein paar anständige Kleider und ein paar Stiefel für sie findest. Das Kind trägt ja nur noch Lumpen am Leib.«
Die alte Magd brummte zustimmend, und Agnes verließ ohne ein weiteres Wort die Küche.
»Nimm dir einen Teller, Löffel sind in der Kiste auf dem zweiten Brett, wenn du keinen eigenen hast.« Magda wies auf das Holzgerüst an der Wand.
Helena tat wie ihr geheißen und hielt der Magd den hölzernen Suppenteller hin, in den diese eine ordentliche Portion Eintopf aus dem Kessel schöpfte.
»Setz dich, ich gebe dir noch ein Stück Brot.«
Herzhaft langte Helena zu, verbrannte sich den Mund an dem heißen Eintopf und blies beim nächsten Löffel vorsichtig über das dampfende Essen. Sie musste sich zwingen, nicht zu schlingen, so ein leckeres Mahl hatte sie schon lange nicht mehr gehabt. Speck hatte es zu Hause seit Monaten nicht gegeben.
Magda brach ein Stück Brot von einem Laib ab, reichte es dem Mädchen und stellte ihr einen Becher und einen Krug mit dünnem Bier hin. Dann setzte sie sich wieder auf ihren Schemel und rupfte das Huhn.
»Wo kommst du her, und wie alt bist du?«, wollte die alte Magda ohne aufzusehen wissen.
»Aus Neckargemünd«, antwortete Helena mit vollem Mund. »Kurz vor Weihnachten bin ich zwölf geworden. Ist Agnes die Frau unseres Herrn?«
»Nein, seine Schwester«, erwiderte die Magd. »Seine Frau ist vor einigen Jahren gestorben.«
Schweigend leerte Helena ihren Teller, wischte ihn mit dem letzten Stückchen Brot sauber.
»Bist du satt?«, fragte Magda und kehrte die Federn zusammen.
Helena nickte. Sie konnte sich nicht erinnern, wann sie zuletzt so satt gewesen war. Durstig schenkte sie den Becher voll und trank ihn mit großen Schlucken leer.
»Hilf mir mit dem Kessel, er muss vom Feuer, sonst brennt der Eintopf an.«
Magda zog den Kessel an der Kette ein Stück nach oben, und Helena nahm einen langen Eisenhaken, mit welchem sie den Kessel von der Feuerstelle bewegte. Langsam ließ Magda die Kette durch ihre Finger gleiten, bis der Kessel auf dem Boden aufsetzte.
»Gut gemacht. Weißt du, wie man ein Huhn ausnimmt?«
Helena war froh, dass ihre Mutter ihr das einst beigebracht hatte, als die Zeiten noch besser gewesen waren. Damals hatte es öfter Huhn gegeben. Doch dann war dieser heiße Sommer einem verregneten gefolgt, alles war auf den Feldern verdorrt, die ihr Vater mitbestellt hatte. Zwei schlechte Erntejahre hintereinander, und seither war es mit der Familie zusehends bergab gegangen. Kaum jemand brauchte einen Tagelöhner. Auch die Handwerker schufteten von früh bis spät und stellten nur selten jemanden ein, um Geld zu sparen, denn Brot war teuer geworden.
›Morgen wird es regnen, dann kommen wieder bessere Zeiten‹, war Wigberts täglicher Spruch gewesen. Doch geregnet hatte es nicht. Von der Kirche hatten sie Almosen erhalten, wofür sich Margret geschämt hatte. Aber ohne die milden Gaben, die auch nicht gerade üppig gewesen waren, wären sie nicht ausgekommen.
»Ja, das kann ich«, erwiderte Helena stolz.
»Gut, dann nimm die Hühner aus. Lebern, Herzen und Mägen legst du beiseite, ebenso die Hälse. Die braten wir später an. Wenn du fertig bist, schneidest du Zwiebeln und Mohrrüben. Die findest du in den Säcken in der Ecke dahinten.«
Helena arbeitete schnell und geschickt, wie Magda zufrieden feststellte, und wenig später brutzelten die Hühner auf einem langen Bratenspieß über dem Feuer. In einer tiefen Eisenpfanne schmorten die Innereien mit dem Gemüse. Magda gab noch ein paar getrocknete Kräuter, die in kleinen Sträußchen von der Decke hingen, hinzu. Ebenso eine Prise Salz und Pfefferkörner, ein gar kostbarer Schatz.
Inzwischen war es draußen dunkel geworden. Magda entzündete mehrere Fackeln, die in den Wandhalterungen steckten. Zwei weitere Mägde fanden sich in der Küche ein, die ältere hieß Hildegard und die jüngere Ännlin. Helena schätzte sie auf achtzehn Jahre. Magda stellte Helena vor, um dann gleich ihre Anweisungen zu geben.
»Hildegard und ich bedienen die Herrschaften, Ännlin und du, Helena, ihr sorgt dafür, dass die Schüsseln gefüllt sind und nichts anbrennt.« Sie klatschte in die Hände, um ihren Anforderungen Nachdruck zu verleihen. Flugs begann Helena, zwei große Schalen mit den geschmorten Innereien zu füllen, während Ännlin Brot in Stücke brach und in einen Weidenkorb legte. Die älteren Mägde verschwanden durch die hintere Tür, jede zwei Krüge mit Bier und Wein in den Händen. Nach kurzer Zeit erschienen sie wieder, nahmen den Brotkorb und die dampfenden Schüsseln und ließen die Mädchen allein.
Verstohlen musterte Helena die junge Ännlin. Die dunkelbraunen Haare hatte sie zu zwei dicken Zöpfen geflochten, ihre üppige Gestalt verbarg sie unter einem braunen Kittel, ihre Füße steckten in knöchelhohen, warmen Stiefeln. Helena bemerkte eine kleine Wölbung, die sich unter dem Kittel der Magd abzeichnete. Das Mädchen war eindeutig schwanger. Ihr Gesicht zeigte einen hochnäsigen Ausdruck, als sie mit geübten Bewegungen die Bratspieße über dem Feuer drehte. Kein Wort wechselte sie mit Helena, und diese traute sich nicht, etwas zu sagen.
Magda und Hildegard kehrten zurück.
»Ännlin, sei so gut und hol Wein aus dem Keller. Mein Rücken schmerzt heute wieder mehr. Und nimm Helena mit«, ächzte Hildegard, während