»Guten Tag. Ich nehme an, Sie sind Kommissar Merana. Bitte kommen Sie herein.«
Er überlegte, ob er ihr zur Bestätigung seinen Dienstausweis zeigen sollte, ließ ihn dann aber stecken. Das »Appartement«, wie Jana Daimond es in beiläufigem Tonfall bezeichnet hatte, erwies sich als große, luxuriös ausgestattete Wohnung. Beeindruckend war auch der Blick aus dem Salon auf die gegenüberliegende Seite der Stadt. Am anderen Salzachufer war ein Großteil des Kapuzinerbergs mit der lang gezogenen Befestigungsmauer und dem alten Franziskanerkloster am linken Ende auszumachen.
»Darf ich Ihnen etwas zu trinken anbieten?«
»Sehr freundlich, ein Glas Wasser bitte.«
Sie deutete zum auffällig gestylten Glastisch, der in der Nähe des großen Fensters stand. Dann brachte sie eine vollgefüllte hellblaue Karaffe und zwei edel aussehende Kristallgläser. Er setzte sich auf einen der mit hellem Leder überzogenen Sessel. Sie nahm ebenfalls Platz, füllte die Gläser. Sie wirkt älter als auf der Bühne, fand er. In jedem Fall älter als auf den Bildern, die er von ihr kannte. Aber vielleicht täuschte sein Eindruck. Immerhin hatte sie eben erst vom tragischen Tod ihrer Schwester erfahren. Auch das rötlich gefärbte Haar erschien ihm kürzer, als er es von den Fotos in Erinnerung hatte. Nur die erkennbare Kupfertönung war ihm vertraut, so wie er sie von Abbildungen kannte. Er bemerkte den matten Glanz, der in ihren dunklen Augen lag. Auch der sanfte Schwung der Augenbrauen erschien ihm makellos. Sie lächelte. »Soll ich an meinem Gesicht etwas ändern, Herr Kommissar?«
Er spürte, wie ihm die Röte in die Wangen schoss. »Nein, absolut nicht. Falls ich Sie angestarrt habe und Sie das aufdringlich empfunden haben, möchte ich mich entschuldigen. Das lag keineswegs in meiner Absicht.«
Erneut lächelte sie. Aber sie sagte nichts, nahm nur einen Schluck Wasser. Der Glanz in ihren Augen verschwand. Ihre Gesichtszüge nahmen jenen Ausdruck an, den er auch von vielen Bildern, auch aus bestimmten Film- und Theaterszenen kannte. Ihr Mienenspiel spiegelte jene Vitalität und Überzeugungskraft wider, mit der sie auf jeder Bühne brillierte. Er räusperte sich. Dann begann er das Gespräch, indem er ihr zuerst sein Beileid für den erlittenen Verlust aussprach. Sie bedankte sich. Sie wollte wissen, ob man Isolde tatsächlich auf der Nonnbergstiege gefunden hatte, wie ihr Jana Daimond mitgeteilt hatte.
»Ja.«
»Mein Gott.«
Er wollte nicht näher darauf eingehen, dass es nicht direkt auf den Stufen der Treppe war, wo man den Leichnam fand, sondern in einem der Freiräume zwischen Stiege und Hausmauer.
Sie verschränkte die Finger, stützte ihr Kinn darauf. Der Ausdruck der Vitalität war wieder längst verschwunden. Das Schimmern in den Augen zeugte von Trauer. »Ich hätte sie doch begleiten sollen«, flüsterte sie. »Ich hätte mich besser nicht schon vorher von ihr verabschiedet, um in meine Gasse abzubiegen. Vielleicht würde Isolde dann noch leben.« Sie senkte das Gesicht. Ihr Körper fing leicht zu beben an.
»Sie waren mit Ihrer Schwester gestern nach der Aufführung noch beisammen?«, fragte er und hoffte, dass sein Tonfall neutral klang und nicht überrascht.
»Wie spät war es, als Sie sich in der Kaigasse von Ihrer Schwester verabschiedeten?«
»Das muss so gegen halb zwei gewesen sein. Wir wollten beide heim.«
Er dachte nach, stellte sich die Szene vor. »Sind Ihnen zu dieser Zeit andere Passanten untergekommen?«
Sie schüttelte langsam den Kopf. »Nein, soviel ich mich erinnern kann, waren wir ganz allein. Nur anfangs auf Höhe der Chiemseegasse begegneten uns zwei Leute, aber die waren stadteinwärts unterwegs. Es war gestern ohnehin so gut wie nichts los. Die nächtliche Stadt wirkte nahezu ausgestorben. Manchmal ist das offenbar so in Salzburg, sogar mitten im Sommer. Das habe ich auch Isolde gegenüber erwähnt, als wir das ›K+K‹ verließen und über den Waagplatz schlenderten.«
»Sie waren gemeinsam im ›K+K‹?«
»Ja.« Es habe gestern eine kleine, eher improvisierte Feier gegeben, erklärte sie. Sie waren wie immer nach Ende ihres Auftrittes in die Garderoben im Großen Festspielhaus gebracht worden. Die anderen waren dann schon vorausgegangen. Sie hatte noch etwas zu erledigen und war etwa eine halbe Stunde später nachgekommen. Einer der jungen Kollegen aus der Darstellergruppe der Tischgesellschaft hatte gestern Geburtstag und deshalb zu einem Umtrunk mit kleiner Jause geladen. Außer dem Geburtstagskind, ihr und Isolde seien zwei weitere Personen dabei gewesen. Die beiden männlichen Kollegen seien nur kurz geblieben, bald aufgebrochen, nachdem sie selbst im Restaurant erschienen war. Sie nannte ihm die Namen der Beteiligten.
»Nur Bianca und Folker sind etwas länger geblieben. Sie saßen noch am Tisch, als Isolde und ich aufbrachen.«
Merana hatte sich die Namen notiert. Gleich nach der Unterredung würde er eine Nachricht an seinen Abteilungsinspektor schicken. Otmar möge sich der Teilnehmer der improvisierten Geburtstagsfeier annehmen, sie zum Verlauf des gestrigen Abends befragen.
»Sie haben sich an der Abzweigung zur Krottachgasse getrennt, sagten Sie. Die Wohnung Ihrer Schwester liegt in der alten Nonntaler Hauptstraße, wie ich erfahren habe.«
»Ja, das stimmt, Herr Kommissar. Es ist die Wohnung, die unserer Mutter gehörte. Auch ich bin dort aufgewachsen. Wir zogen ein, als ich acht Jahre alt war.«
»Die Wohnung liegt, der Hausnummer zufolge, gleich am Beginn der Straße. Wenn Ihre Schwester heimwollte, wie auch Sie vorhin erwähnten, warum wählte sie dafür einen viel weiteren Weg. Über die Route Kaigasse, Kajetanerplatz, Schanzlgasse wäre sie doch viel schneller zu Hause gewesen.«
Ihr Mienenspiel änderte sich. Das traurige Schimmern ihrer Augen wurde überdeckt von einem mädchenhaften Lächeln.
»Das ist ganz einfach zu erklären, Herr Kommissar. Kennen Sie den Weg über die Nonnbergstiege?«
»Ja.«
»Mögen Sie ihn?«
»Ja, sogar sehr. Ich liebe die Nähe zum alten Kloster, auch die zur alten Festung. Und die Ausblicke auf die Stadt, die man dort bekommt, sind einfach überwältigend.«
Ihr Lächeln wurde stärker.
»Isolde hätte es nicht besser beschreiben können. Sie liebte es, den Heimweg aus der Stadt über die alte Nonnbergstiege zu nehmen. Das war schon immer so.
Selbst, als sie noch ein Kind war. Ihnen ist sicher die markante Stelle direkt gegenüber der Klosterkirche bekannt.«
»Selbstverständlich.