Dem Kommissar war bewusst, wie sehr er die Medizinerin bisweilen zu dieser Vorgehensweise nahezu drängte. Aber Frau Dr. Eleonore Plankowitz hatte mit den von ihr so bezeichneten Einschätzungen in den meisten Fällen äußerst präzise gelegen, wie die späteren forensischen und labortechnischen Untersuchungen bestätigt hatten.
»Also gut, Martin, dann will ich mich dir zuliebe auch dieses Mal darauf einlassen. Ich schätze, der Tod der jungen Frau ist zwischen 23 Uhr und drei Uhr morgens eingetreten.« Sie wies auf die Tote. »So wie es sich auf den ersten Blick zeigt, hat sie sich beim Aufprall nicht nur einen Teil der hinteren Schädeldecke zertrümmert. Sie hat sich auch das Genick gebrochen. Sie dürfte also sofort tot gewesen sein. Die anderen an der Leiche sichtbaren Verletzungen, vor allem die Abschürfungen, hat sie sich beim Herunterfallen zugezogen. Sie passen auch alle zur äußeren Struktur an dieser Mauer. Bis auf die eine Verletzung, die ist etwas eigenartig.« Eleonore Plankowitz deutete auf die linke Gesichtsseite der Toten. Auf Höhe der Schläfe war eine längliche, etwa drei Zentimeter breite Blessur zu erkennen. Merana beugte sich nach vorn. Er bemühte sich, die Tote nicht zu berühren, auch wenn er Schutzhandschuhe übergestreift hatte. Er betrachtete aufmerksam die Stelle. »Was sind das für eigenartige dunkle Partikel in der Wunde?« Er richtete sich wieder auf.
»Das wüsste ich auch gerne«, antwortete die Medizinerin. »Ich halte das für Splitter. So wie die Wunde aussieht, könnte sie an dieser Stelle von etwas getroffen worden sein.«
»Du meinst Fremdeinwirkung?«
Die Ärztin zuckte mit den Schultern. »Kann sein, kann nicht sein. Ich finde, es reicht für das unprofessionelle Prozedere an Einschätzung an dieser Stelle. Nur noch so viel. Wie mir Thomas vorhin bestätigte …«
»… haben er und seine unermüdlich schuftenden Kollegen bisher nichts gefunden.«
Wie auf Stichwort war der Leiter der Tatortgruppe neben ihnen aufgetaucht und hatte mit einem satten Grinsen den Satz der Gerichtsärztin vollendet. Er reichte Merana die Hand.
»Hallo, Martin.« Er deutete nach oben. »Natürlich haben wir noch nicht jeden Quadratzentimeter des Geländes bis ins Kleinste durchsucht. Wie Eleonore ganz richtig bemerkte, gibt es bisher nichts, was wir als Quelle für diese eigenwillig geformten dunklen Gebilde ausmachen konnten. Aber wir sind auch noch lange nicht fertig. Wir suchen natürlich weiter. Und wenn da oben auch nur ein einziger Splitter existiert, der zu denen in der Kopfwunde passt, dann finden wir ihn!«
Daran hegte der Kommissar auch nicht die Spur eines Zweifels. »Wer hat die Tote entdeckt?«
Die Frage war an den Abteilungsinspektor gerichtet. Der zückte sein Notizbuch, blätterte darin. Der überwiegende Teil der Ermittler hielt mittlerweile längst jegliches Detail kriminalpolizeilicher Untersuchung auf Tablets fest oder auf ähnlichen multifunktionalen Digitalgeräten. Und das weltweit. Aber Abteilungsinspektor Otmar Braunberger benützte nach wie vor lieber Notizblöcke mit geringelter Halterung.
»Gefunden hat die Tote eine Frau Lotte Ramalla, 74 Jahre, pensionierte Kanzleiangestellte. Sie wohnt da drüben.«
Er deutete auf einen der gegenüberliegenden Hauseingänge.
»Sie wollte um halb sechs ihren Hund äußerln führen, so wie jedem Morgen.«
Halb sechs, dachte Merana. Da hatten eben die ersten Strahlen die obersten Felszacken des Untersberges berührt. Er hatte es beim Laufen gemerkt und sich gefreut.
»Die Dame war ein wenig verwirrt, als die alarmierten uniformierten Kollegen hier eintrafen, wie man mir berichtete. Ich werde später versuchen, nochmals in Ruhe mit ihr zu reden.«
»Gibt es sonst Zeugen?«
Der Abteilungsinspektor schüttelte den Kopf. »Bisher nicht, Martin. Ich habe schon einige Kollegen losgeschickt, um Leute aus der Nachbarschaft zu befragen. Nicht nur hier entlang des Stiegenaufgangs, auch drunten in der Gasse. Aber bisher hat noch keiner etwas gemeldet, das uns bei diesem Fall weiterhelfen könnte.«
Vielleicht traf das Wort »Fall« auch gar nicht zu, ging es Merana durch den Kopf, zumindest nicht aus kriminalpolizeilicher Sicht. Die junge Frau konnte auch aus völlig anderen Gründen über die Geländerbegrenzung des Stiegenaufgangs gestürzt sein. Ohne dass jemand dabei nachgeholfen hatte und somit ein Verbrechen vorlag. Bis jetzt wussten sie noch gar nichts dazu. Ja, ihr allseits geschätzter Chef hatte beim Namen Laudess sofort alle Alarmglocken läuten gehört. Daraufhin hatte er umgehend die stärkste Polizeibesatzung aufmarschieren lassen, wissend, dass sich sofort Medien und Öffentlichkeit auf diesen Vorfall stürzen würden, wenn durchdrang, dass es sich bei der Toten tatsächlich um die Schwester von Senta Laudess handelte.
»Danke, Otmar.« Der Abteilungsinspektor steckte das unförmige, leicht abgegriffene Notizbuch wieder ein. Dann wurde seine Aufmerksamkeit von etwas anderem abgelenkt. »Ich glaube, da bist du gefragt, Martin.« Braunberger wies hinunter zum Anfang des Treppenaufstiegs. Einer der Streifenpolizisten an der Absperrung hielt eine groß gewachsene Frau auf, die an ihm vorbei nach oben wollte. Der Kommissar erkannte sie. Das war Jana Daimond. Sie war die Chefin der Öffentlichkeitsabteilung der Salzburger Festspiele. Jana Daimond war Merana schon im vergangenen Sommer vorgestellt worden. Er verließ den Platz, an dem die Tote lag, trat hinaus auf den steinernen Aufgang und stieg nach unten.
»Danke, Herr Kollege, ich übernehme das.«
Er gab dem uniformierten Kollegen ein Zeichen. Die groß gewachsene Frau im dunkelblauen Hosenanzug drehte sich zu ihm. Die Müdigkeit war ihr deutlich anzusehen. Die ansonsten gestraffte Gesichtshaut wirkte rings um die Augen leicht faltig. Für gediegene Kosmetik war wohl keine Zeit geblieben an diesem unerwartet ereignisreichen Morgen, kam es ihm in den Sinn. »Guten Tag, Herr Kommissar.« Er blieb direkt vor ihr stehen. Sie blickte ihm ins Gesicht, prüfend, als versuche sie darin zu lesen. Sie hatte wohl gefunden, was sie suchte. Ihre Stimme wurde ganz leise. »Es ist also wahr? Isolde Laudess ist etwas Furchtbares zugestoßen?« Er nahm sie am Arm, führte sie ein wenig zur Seite, hinein in die Gasse. Einem Fotografen war es offenbar gelungen, durch die Absperrung zu gelangen. Er stand in der Nähe, zielte mit der Kamera in ihre Richtung. Merana gab einem der Kollegen ein Zeichen, wies mit der Hand auf den Fotografen. Der Uniformierte setzte sich augenblicklich in Bewegung, um den Mann zu verscheuchen.
»Ja, Frau Daimond. Darf ich fragen, wie Sie von dem Vorfall erfahren haben?«
Sie schaute ihn leicht verwirrt an. »Der Herr Polizeipräsident höchstpersönlich hat mich angerufen.«
Natürlich, Merana hätte es sich denken können. Vermutlich hatte der Herr Hofrat inzwischen auch mit allen Chefredakteuren der wichtigsten Medien und wohl auch mit dem Landeshauptmann telefoniert. Mit jedem, der ihm auf seinem unermüdlichen Karriereweg irgendwann einmal vielleicht nützlich sein könnte.
»Können Sie mir erklären, Herr Kommissar, wie es für Isolde zu diesem Unglück kam? Ich vermute, es gibt Anzeichen für ein Verbrechen, wenn so viel Polizei vor Ort ist.«
Er versuchte, seiner Stimme einen beruhigenden Klang zu verleihen. »Dazu darf ich Ihnen derzeit leider noch nichts sagen, Frau Daimond.«
Sie nickte. »Die Ärmste. Vermutlich war sie auf dem Weg zu ihrer Wohnung. Isolde hatte ja gestern noch bei unserer ›Jedermann‹-Aufführung auf der Bühne gestanden.«
Ja, das hatte Merana schon vermutet. Gestern war Vorstellung, wie ihm bekannt war. Dass die junge Frau zum Ensemble gehörte, das wusste er, seit er vor zwei Wochen eine Fernsehreportage darüber gesehen hatte. Die Gestalter hatten mehrfach darauf hingewiesen, welch wunderbare Fügung es sei, in diesem Jahr beide Schwestern nebeneinander auf der »Jedermann«-Bühne zu erleben. Senta, die allseits berühmte Darstellerin großer Charakterfiguren, als Buhlschaft, und die jüngere Isolde in einer kleinen Rolle als Mitglied der Tischgesellschaft.
»Kann ich sie sehen?«
Merana schüttelte den Kopf. »Ich bedaure sehr, aber das geht leider nicht.«
»Ich verstehe. Sie müssen sich wohl