Das erste Buch Mose bildet die Grundlage für die uralte, komplexe und oft leidenschaftliche Debatte über Determinismus und freien Willen, oder für die entsprechende – obwohl nicht gänzlich identische – Debatte über das Verhältnis zwischen der Souveränität Gottes und der menschlichen Verantwortung.5 Es muss festgehalten werden, dass es hier zwei Einzelfragen gibt:
1. Lehrt die Bibel beides: dass Gott regiert und dass die Menschen einen bestimmten Grad an Freiheit haben?
2. Wenn die Antwort „Ja“ lautet, wie kann das sein?
Wenn wir zwischen diesen Fragen nicht unterscheiden, besteht die Gefahr, dass eine nicht zufriedenstellende Antwort auf Frage 2 zu einem Zögern führen kann, Frage 1 bejahend zu beantworten. Diese Reaktion ist etwas seltsam, denn es gibt viele Dinge in der Natur, die wir nicht vollständig verstehen. Zum Beispiel wird von Wissenschaftlern anerkannt, dass das Licht sowohl als Partikeln als auch als Wellen vorkommt. Doch genau zu verstehen, wie dies funktioniert, ist eine völlig andere Angelegenheit.
Wir sollten hierbei festhalten, dass die Annahme, dass menschliche Freiheit Teil der Menschenwürde ist, zum Kern aller zivilisierten Gesellschaften gehört. Dies zeigt sich ganz deutlich an der Tatsache, dass solche Gesellschaften die Menschen für ihr Handeln für verantwortlich und rechenschaftspflichtig halten; daher gibt es Rechtsinstitute und Verfahren für die Einhaltung der Gesetze. Die Analogie von der oben genannten Wissenschaft schafft vielleicht eine mögliche Herangehensweise an die Frage der göttlichen Souveränität und menschlichen Freiheit, und zwar, wie sich beides tatsächlich in den Details des täglichen Lebens auswirkt, wie es in der Bibel berichtet wird. Es ist kein Zufall, dass das Neue Testament in Bezug auf dieses Thema unsere Aufmerksamkeit direkt auf den späteren Teil des ersten Buches Mose und die Berichte von Isaak, Jakob und ihren Söhnen lenkt (siehe Römer 9–11). Es wird daher Teil unserer Geschichte sein.
Mehr zu gegebener Zeit. An dieser Stelle ist es wichtig zu verstehen, dass das zentrale Merkmal der Moral, wie es hier in 1. Mose geschrieben wird, sich auf den Gehorsam gegenüber dem Wort Gottes konzentriert. Damit meine ich, dass die Menschen nur Gottes Wort hatten, das ihnen sagte, dass der Genuss der Frucht vom Baum der Erkenntnis des Guten und Bösen potenziell tödlich sei. Die wichtigste Frage für sie lautete einfach: Waren sie bereit, Gottes Wort zu vertrauen? Darauf zielte auch die Versuchung der Schlange ab: „Hat Gott wirklich gesagt …?“ (1Mo 3,1). Die Schlange stellte Gott unterdrückerisch und tyrannisch dar: „Ihr werdet durchaus nicht sterben, sondern Gott weiß, dass an dem Tag, da ihr davon esst, eure Augen aufgetan werden und ihr sein werdet wie Gott, erkennend Gutes und Böses“ (1Mo 3,4.5). Dies war eine teuflisch listige Halbwahrheit, die mit der anscheinend unwiderstehlich ästhetischen und intellektuellen Attraktivität der einen verbotenen Frucht in dem wunderschönen Garten reizte.
Die ersten Menschen nahmen die Frucht, aßen sie und starben – nicht zuerst im körperlichen Sinn, aber das würde schließlich folgen, denn der Tod ist die Auflösung des Lebens. Das Leben in seiner höchsten Form ist eine reine und geistliche Beziehung mit Gott, die verbunden ist mit dem Vertrauen und Gehorsam gegenüber seinem Wort. Nach einer unerbittlichen Logik begann der Tod also mit dem Bruch dieser Beziehung. Jedoch endete er damit nicht. Der Verfall und der körperliche Tod folgten zu gegebener Zeit, aber der Tod hatte seine grausame Tyrannei begonnen, und die Menschen flohen vor der Gegenwart Gottes. Und seitdem, so könnte man hinzufügen, sind wir weggelaufen und haben uns versteckt.
Das Thema der Täuschung durchzieht tatsächlich den gesamten biblischen Handlungsverlauf. Besonders in der Geschichte Josephs wird es eine wichtige Rolle spielen, dem Sohn Jakobs, dessen Name eigentlich „Betrüger“ bedeutet.
Der biblische Bericht, wie die Sünde in die Welt kam und Unheil mit sich brachte, blieb nicht ohne Kritiker. Tatsächlich weigern sich viele Menschen nicht nur, diesen ernstzunehmen, sondern sie denken auch, dass er Gott als jemanden darstellt, der gegen das Wissen und gegen den Intellekt sei, in der Absicht, die Menschen in einer naiven und unwürdigen Abhängigkeit versklavt zu halten. Ich behaupte, dass dies eine sträfliche Verdrehung der Tatsachen ist, die daher rührt, dass man nicht genau liest, was in 1. Mose eigentlich steht.
Nirgends sonst ist diese Falschdarstellung deutlicher zu sehen, als bei einem faszinierenden Kunstprojekt im Freien, auf dem Campus der Universität von Kalifornien in San Diego. Es nennt sich der Snake Path (Schlangenpfad) und wurde entworfen und verwirklicht von der namhaften Künstlerin Alexis Smith. Er ist Teil der Stuart-Kollektion, und auf der dazugehörigen Internetseite steht darüber:
Der Snake Path ist ein sich windender 170 Meter langer und 3 Meter breiter Fußweg in Form einer Schlange, deren einzelne Schuppen hexagonale farbige Schieferplatten sind und deren Kopf so ausgerichtet ist, dass er zum Eingang der Geisel-Bibliothek zeigt. Der Schwanz windet sich um einen vorhandenen Betonpfad, so wie sich eine Schlange um einen Baumstamm winden würde. Entlang des Weges verläuft der leicht erhobene Körper der Schlange im Kreis um einen kleinen „Garten Eden“ mit mehreren Fruchtbäumen und einem Granatapfelbaum. Dort steht eine Marmorbank mit einem Zitat von Thomas Gray: „Doch warum sollten sie ihr Schicksal kennen / Wenn Leid nie zu spät kommt / und das Glück zu schnell verfliegt / Nachdenken würde ihr Paradies zerstören / Wo Nichtwissen Seligkeit ist, ist es Torheit weise zu sein.“ Der Pfad verläuft dann entlang eines riesigen Granitbuches, auf dem ein Zitat von John Miltons Das verlorene Paradies eingraviert ist: „Und du wirst nicht abgeneigt sein, dieses Paradies zu verlassen, sondern sollst in dir selbst ein noch glücklicheres Paradies besitzen.“6
Auf der Webseite steht weiterhin:
Diese zugespitzten Anspielungen auf den biblischen Konflikt zwischen Unschuld und Erkenntnis markieren einen treffend symbolischen Weg zur Hauptbibliothek der Universität. Die Vorstellung, einen heiligen Zufluchtsort in sich selbst zu finden – außerhalb der idealistischen und geschützten Umgebung der Universität – spricht direkt zu dem Studenten, der kurz davor ist, in die „wirkliche Welt“ hinauszugehen.“7
Doch der Baum in dem biblischen Bericht vom Garten Eden war nicht einfach der Baum des Wissens oder der Erkenntnis. Es war der Baum der Erkenntnis des Guten und Bösen, was eine völlig andere Sache ist. Die Schlange eröffnete nicht einen Pfad zu Unmengen an Wissen, die wir mit einer Universität in Verbindung bringen, die zu einem guten menschlichen Gedeihen führen könnte, sondern nur zu einer bestimmten Art von Erkenntnis – das Wissen um Gut und Böse. Dieses Wissen, das die ersten Menschen erlangten, war grauenhaft, düster und schmerzlich, und führte zu einem Bruch zwischen ihnen und Gott. Das war kein menschliches Gedeihen; es war der entstehende Tod. Wenn die Webseite behauptet, dass der Schlangenpfad „zugespitzte Anspielungen auf den biblischen Konflikt zwischen Unschuld und Erkenntnis“ enthält, so scheint der Gedanke hier zu sein, dass Gott die Menschen in einem Zustand von Unwissenheit gefangen hält und ihnen das Wissen vorenthält, das zur Entwicklung ihres vollen Potenzials führen würde. Diese verdrehte Vorstellung ist der Nährboden für viel Atheismus. Aber es ist eine völlig falsche Lesart von 1. Mose. Denn dass die Unschuld im Garten sei und die Erkenntnis außerhalb, ist das genaue Gegenteil der Wahrheit, wie der biblische Bericht ganz deutlich herausstellt.
Wie wir gesehen haben, beschreibt 1. Mose 2 den Garten Eden als einen Ort, wo die Menschen ihr kreatives Potenzial voll ausschöpfen konnten. Die Tragödie ist, dass die falsche Lesart dieser Geschichte zu der immer wiederkehrenden Verleumdung geführt hat, dass Gott der Feind der menschlichen Entwicklung sei, anstatt ihr Urheber.
Das Samen-Projekt
Gott sagt zur Schlange, nachdem sie die Menschen getäuscht hat:
Und ich werde Feindschaft setzen zwischen dir und der Frau und zwischen deinem Samen und ihrem Samen; er wird dir den Kopf zermalmen, und du wirst ihm die Ferse