Walpurgisnacht / Вальпургиева ночь. Книга для чтения на немецком языке. Густав Майринк. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Густав Майринк
Издательство: КАРО
Серия: Klassische Literatur (Каро)
Жанр произведения: Зарубежная классика
Год издания: 1917
isbn: 978-5-9925-1445-2
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träume, dann brachte ihn das plötzliche, wütende Aufbellen des Hundes zur Besinnung – er hörte einen gellenden Schrei, sah die Gestalt auf dem Sims schwanken und, wie von einem lautlosen Windstoß weggeweht, verschwinden.

      Das Prasseln und Brechen von Zweigen und Gebüsch verriet ihm, dass der Mann in den Garten gefallen war. —

      „Mörder, Einbrecher! – Man muss die Wache holen!“ zeterte der Edle von Schirnding, der auf den Schrei hin mit der Gräfin aufgesprungen und zur Tür geeilt war.

      Konstantin Elsenwanger hatte sich wimmernd auf die Knie geworfen, das Gesicht in den Sitzpolstern seines Lehnstuhls vergraben, und betete, in den gefalteten Händen noch ein gebratenes Hühnerbein, das Vaterunser.

      Auf die schrillen Befehle des kaiserlichen Leibarztes, der wie ein riesiger nächtlicher Vogel mit federlosen Flügelstümpfen von der Verandabrüstung hinab in die Finsternis gestikulierte, kam die Dienerschaft aus dem Portierhäuschen in den Park gelaufen und durchsuchte mit Windlichtern, wild durcheinanderrufend, die dunklen Bosketts. Der Hund schien den Eindringling gestellt zu haben, denn er bellte laut und anhaltend in regelmäßigen Intervallen.

      „No alsdann, was ist denn, habts den preißischen Kosaken endlich?“ zürnte die Gräfin, die von Anfang an nicht die Spur von Aufregung oder Angst gezeigt hatte, durch ein offenes Fenster hinunter.

      „Heilige Muttergottes, er hat den Hals gebrochen!“ hörte man das Dienstmädchen Bosena jammernd aufkreischen; dann trugen die Leute den leblosen Körper eines Menschen von dem Fuß der Mauer her in den Lichtschein, den das helle Zimmer hinaus auf den Rasenplatz warf.

      „Bringt ihn herauf! Rasch! Bevor er verblutet“, befahl die Gräfin kalt und ruhig, ohne auf das Gewinsel des Hausherrn zu achten, der entsetzt dagegen protestierte und verlangte, man solle den Toten über die Mauern den Abhang hinunterwerfen – ehe er wieder lebendig werden könne.

      „Bringt ihn wenigstens hier hinein ins Bilderzimmer“, flehte Elsenwanger, drängte die Greisin und den Pinguin, der einen der brennenden Armleuchter ergriffen hatte, in den Ahnensaal und verschloss die Tür hinter ihnen.

      Außer ein paar geschnitzten Stühlen mit hohen vergoldeten Lehnen und einem Tisch standen keinerlei Möbel in dem langgezogenen, gangartigen Raum – der dumpfe morsche Geruch und die Staubschicht auf dem Steinboden verrieten, dass er nie gelüftet wurde und seit langem nicht mehr betreten worden war.

      Die lebensgroßen Gemälde darin waren ohne Rahmen in die Täfelungen der Wände eingelassen: Porträts von Männern in Lederkollern, Pergamentrollen gebieterisch in den Händen haltend – Frauen dazwischen mit Stuartkragen und Puffen an den Ärmeln – ein Ritter in weißem Mantel mit Malteserkreuz, eine aschblonde junge Dame im Reifrock, Schönheistpflästerchen auf Wange und Kinn, ein grausames, wollüstig-süßes Lächeln in den verderbten Zügen, mit wundervollen Händen, schmaler, gerader Nase, feingeschnittenen Nüstern und feinen, hochgeschwungenen Brauen über den grünlichblauen Augen – eine Nonne im Habit der Barnabiterinnen – ein Page – ein Kardinal mit asketischen, mageren Fingern, bleigrauen Lidern und versunkenem, farblosem Blick. So standen sie in ihren Nischen, dass es aussah, als kämen sie aus dunklen Gängen herbei ins Zimmer, aufgeweckt nach jahrhundertelangem Schlaf infolge des flackernden Glanzes der Kerzen und der Unruhe im Haus. – Bald schienen sie sich heimlich verbeugen zu wollen voll Vorsicht, dass nicht ein Rascheln der Kleider sie verrate – schienen die Lippen zu bewegen und lautlos wieder zu schließen, mit den Fingern zu zucken oder die Mienen hochzuziehen, um sofort in Starrheit zu versinken, als hielten sie den Atem an und ließen ihr Herz stillstehen, wenn der Blick der beiden Lebenden sie flüchtig streifte.

      „Sie werden ihn nicht retten können, Flugbeil“, sagte die Gräfin und sah wartend unverwandt zur Tür. „Es ist wie damals. Wissen Sie! Er hat den Dolch im Herzen stecken. – Sie werden wieder sagen: Hier ist leider jede menschliche Kunst am Ende.“

      Der kaiserliche Leibarzt verstand im ersten Moment nicht, was sie meinte. Dann begriff er mit einemmal. – Er kannte das an ihr. Sie verwechselte die Vergangenheit mit der Gegenwart – pflegte dergleichen zuweilen zu tun.

      Dasselbe Erinnerungsbild, das ihr Gedächtnis verwirrte, wurde plötzlich auch in ihm lebendig: Vor vielen, vielen Jahren hatte man in ihrem Schloss auf dem Hradschin ihren Sohn erstochen ins Zimmer hineingetragen. Und vorher ein Schrei im Garten, das Bellen eines Hundes – alles genau wie heute. Wie jetzt hier im Raum waren auch damals Ahnenbilder an den Wänden gehangen und war ein silberner Armleuchter auf dem Tisch gestanden. – Einen flüchtigen Augenblick lang war der Leibarzt so verwirrt, dass er nicht mehr wusste, wo er war. Die Erinnerung hielt ihn so gefangen, dass es ihm gar nicht wie Wirklichkeit vorkam, als man den Verunglückten zur Tür hereinbrachte und vorsichtig niederlegte. Er suchte unwillkürlich nach Worten des Trostes für die Gräfin wie einst, bis ihm mit einem Schlag klar bewusst wurde, dass es doch nicht ihr Sohn war, der hier lag, und dass statt ihrer jugendlichen Erscheinung von damals eine Greisin mit weißen Ringellocken am Tisch stand. —

      Eine Erkenntnis, schneller als ein Gedanke und schneller, als dass er sie richtig hätte erfassen können, durchzuckte ihn und ließ das dumpfe, rasch verdämmernde Gefühl in ihm zurück, dass die „Zeit“ nichts als eine diabolische Komödie sei, die ein allmächtiger unsichtbarer Feind dem menschlichen Gehirn vorgaukelt.

      Nur die einzige Furcht blieb ihm als Ernte: dass er blitzartig mit dem inneren Empfinden einen Moment lang begriffen hatte – was er früher niemals richtig zu verstehen fähig gewesen war – , nämlich die seltsamen befremdlichen Seelenzustände der Gräfin, die bisweilen sogar historische Ereignisse aus der Zeit ihrer Ahnen als gegenwärtig empfand und mit ihrem Alltagsleben unentwirrbar zu verknüpfen pflegte.

      Er empfand es wie einen unwiderstehlichen Zwang, dass er sagen musste: Wasser bringen! Verbandsseug! – dass er sich wieder, wie damals, herabbeugte und nach den Aderlassschnepper in seiner Brusttasche griff, den er aus alter, längst überflüssig gewordener Gewohnheit immer bei sich trug.

      Erst als der Atemhauch aus dem Munde des Ohnmächtigen seine prüfenden Finger traf und sein Blick zufällig auf die nackten, weißen Schenkel Bosenas fiel, die mit der den böhmischen Bauernmädchen eigentümlichen, schamfreien Ungeniertheit sich mit emporgerutschtem Rock niedergekauert hatte, um besser sehen zu können – kam er wieder völlig ins Gleichgewicht: Das Bild der Vergangenheit löste sich angesichts der fast schreckhaften Gegensätze zwischen blühendem jungem Leben, der Totenstarre des Bewusstlosen, den schemenhaften Gestalten der Ahnengemälde und den greisenhaft gefurchten Zügen der Gräfin wie ein verdunstender Schleier von der Gegenwart.

      Der Kammerdiener stellte den Leuchter mit den brennenden Kerzen auf den Boden, und ihr Schein erhellte das eigentümlich charakteristische Gesicht des Verunglückten, der – die Lippen unter dem Einfluss der Ohnmacht aschfarben und widernatürlich abstechend von den grellrot geschminkten Wangen – eher der wächsernen Figur einer Schaubude als einem Menschen glich.

      „Heiliger Wenzel, es ist der Zrcadlo!“ rief das Dienstmädchen und zog – wie unter der Empfindung, als habe das Pagenporträt in der Wandnische infolge des Lichtflackerns plötzlich ein begehrliches Auge auf sie geworfen – züchtig ihren Rock über die Knie.

      „Wer ist s?“ fragte die Gräfin erstaunt.

      „Der Zrcadlo – der „Spiegel’“, erklärte der Kammerdiener, den Namen Zrcadlo aus dem Tschechischen ins Deutsche übersetzend, „mir nennt ihn so hier heroben auf dem Hradschin, aber mir weiß nicht, ob er wirklich so heißt. – Er ise sich Aftermieter bei der – “ er stockte verlegen, „bei der – no, halt bei der ‘böhmischen Liesel’.“

      „Bei wem?“

      Das Dienstmädchen kicherte in den vorgehaltenen Arm, und auch das übrige Gesinde verbiss mühsam das Lachen. Die Gräfin stampfte mit dem Fuße auf:

      „Bei wem, will ich wissen!“

      „Die „böhmische Liesel“ war in früheren Jahren eine berühmte – Hetäre“, nahm der Leibarzt das Wort und richtete sich an dem Verunglückten auf, der bereits die ersten Lebenszeichen von sich gab und mit den Zähnen knirschte. „Ich wusste gar nicht, dass sie noch lebt und sich auf dem Hradschin herumtreibt; sie muss ja uralt sein. Sie wohnt wohl