Schattenkinder. Marcel Bauer. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Marcel Bauer
Издательство: Автор
Серия:
Жанр произведения: Историческая литература
Год издания: 0
isbn: 9783898019002
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Stenne, der Pfarrer von Stoumont, telefonisch über die Gastwirtschaft »Zum Wagemutigen Vogelfänger« in der Rue du Bœuf kontaktiert. Die Kneipe war eine der wenigen Adressen in Joshuas Nachbarschaft, die über einen Telefonanschluss verfügte.

      Der Abbé hatte ihn gebeten, über Weihnachten nach Stoumont zu kommen, um in der Pfarrei auszuhelfen. Er benötige ihn als Ministranten und als Sänger im Kirchenchor. Zusammen mit seinem Freund Arnaud, der noch in der Kolonie war, solle er in der Mitternachtsmesse als Solist auftreten. Der Abbé hatte gemeint, es wäre sinnvoll, wenn er ein paar Tage früher käme, um an den Proben teilzunehmen.

      Seine Mutter war über Joshuas Absicht, unverzüglich aufzubrechen, nicht sonderlich erbaut. Sie hätte es lieber gesehen, er hätte das Ende des Lichterfestes abgewartet. Gestern hatten sie erst die vierte Kerze des Siebenarmigen Leuchters entzündet. Außerdem würde Joshua in wenigen Tagen seinen dreizehnten Geburtstag feiern. Das war im Leben jedes jüdischen Jungen ein großer Tag, denn an diesem Tag würde er nach dem Gesetz Mose mündig und ein vollwertiges Mitglied der Gemeinde.

      Aber Joshua hatte sich nicht umstimmen lassen, und da sein Bruder keine Lust gezeigt hatte, ihn zu begleiten, war er alleine aufgebrochen. Er brauchte nicht lange zu überlegen. Zu groß schien ihm die Bringschuld dem Abbé gegenüber. Wenn Joshua über die Zeit in der Kolonie und den Abbé Stenne nachdachte, fiel ihm das Bild von einem Ast mit vielen Blättern ein. Über all die Jahre hatten er und die anderen Jungen sich wie die Blätter eines Baumes an diesem Ast festhalten können, auch wenn es draußen wehte und stürmte. Der Abbé hatte ihnen immer Halt und Zuversicht gegeben.

      Nachdem Joshua sich vergewissert hatte, dass ihn in der Straßenbahn, die nur schwach besetzt war, niemand beobachtete, holte er seinen Stoffhasen aus dem Rucksack hervor. Das Häschen hatte ein hellblaues Fell. Seine Nase war flach, und die hellen Glasaugen, die bei jedem Lichtstrahl aufblitzten und funkelten, gaben ihm ein verschmitztes Aussehen. Besonders drollig war das Schwänzchen, das in der Hasensprache Blume hieß. So lange Joshua zurückdenken konnte, war der Plüschhase sein ständiger Begleiter. Als kleines Kind hatte er ihm den Namen Roro gegeben, weil er so selig wie ein Kater schnurren konnte, wenn er schlief.

      Das Häschen war ziemlich abgenutzt und in die Jahre gekommen. Sein Fell war nicht mehr so flauschig wie ehedem, seine Gliedmaßen und Schlappohren waren abgegriffen. Da es im Dezember in den Ardennen kalt ist, hatte er ihm den Pullover angezogen, den seine Mutter ihm gestrickt hatte. Er hatte auch ein Säckchen dabei, in das er ihn stecken konnte, um ihn überall unbemerkt mitnehmen zu können.

      Joshua setzte Roro auf den Fensterrand, damit er sich recken und strecken konnte. Der Hase war erfreut gewesen, als er erfahren hatte, dass sie für ein paar Tage dem Schmuddelwetter und dem Smog, der um diese Jahreszeit immer in Seraing herrschte, entfliehen würden, um in den Ardennen frische Luft zu atmen.

      Joshua hatte den kleinen Kerl immer dabei. Er war sein Vertrauter und Ratgeber in allen Lebenslagen. Da Joshua wusste, dass viele Menschen es für lächerlich hielten, dass ein großer Junge noch ein Schmusetier brauchte, hielt er ihn vor fremden Augen verborgen. Nur seine Eltern, der Bruder und sein Freund Arnaud wussten von seiner Existenz.

      Der Hase war nicht bei allen wohl gelitten. Mendel lästerte gerne, es handele sich nicht um einen Feld- sondern um einen Stallhasen und sprach abfällig von einem Karnickel. Wegen Roro musste Joshua viel Spott und Häme ertragen. Für einen jüdischen Jungen war ein Hase als Kuscheltier insofern ungewöhnlich, weil Hasen bei den Israeliten als unreine Tier gelten und deshalb noch nicht einmal wert waren, in den Kochtopf zu wandern.

      Die Mutter, die ihrem Sohn den Plüschhasen zu seinem dritten Geburtstag geschenkt hatte, hatte eine dunkle Ahnung, dass irgendwann irgendetwas Schlimmes passiert sein musste, um die beiden Spielkameraden so eng aneinander zu schweißen. Aber was es war, konnte sie nie herausfinden.

      Tatsächlich war der Beginn ihrer unverbrüchlichen Freundschaft ein Ereignis gewesen, das Joshua traumatisiert hatte. Er zählte vielleicht vier oder fünf Jahre. Die Rozenbergs lebten damals noch im polnischen Lodz. Joshua glaubte sich zu erinnern, dass seine Eltern zu einer Hochzeit oder einem Familienfest eingeladen worden waren. Während sie seinen älteren Bruder mitnahmen, ließen sie ihn in die Obhut einer Bekannten zurück. Als die Eltern zur verabredeten Uhrzeit nicht zurückkamen und sich auch Stunden später noch nicht blicken ließen, hatte die Nachbarin ihn einfach vor die Tür des Elternhauses abgesetzt.

      Als Joshua mutterseelenallein vor der verschlossen Türe seines Elternhauses hockte, hatte er den Eindruck, von allen verlassen zu sein. Er kam sich vor wie eine überflüssige Bestellung, wie ein Paket, das falsch zugestellt, nicht abgeholt und bei den Remittenden gelandet war. In ihm stieg ein dumpfes Gefühl von Verrat und Untreue auf, denn er hatte mitbekommen, dass seine Eltern Auswanderungspläne schmiedeten. Teile ihres Hausstandes hatten sie schon veräußert. Darum dachte er, dass das mit der Hochzeit nur ein Vorwand, ein Trick, eine Finte gewesen waren, um ihn loszuwerden.

      Er war so verzweifelt, dass er noch nicht einmal fähig war zu weinen. Lediglich aufschluchzen konnte er hin und wieder. Er konnte es den Eltern nicht einmal verdenken, dass sie ihn abgeschrieben und alleine zurückgelassen hatten, denn selbst in seinen Augen war Mendel der bessere Sohn.

      Wie es sich gehörte, trug Mendel als Stammhalter den Vornamen ihres Großvaters. Zeitlebens hatte Joshua ihn beneidet. Sein Bruder war klüger als er und, wie er meinte, auch hübscher. Mendel hatte von seiner Mutter eine helle Haut und glattes Haar geerbt, sodass er nirgendwo auffiel, während er selber eher nach dem Vater geraten war und sich wegen seiner dunklen Haut und seinem lockigen Haar schämte. Er glaubte, dass jeder, der ihn sah, sofort eine jüdische Herkunft erkennen müsse.

      Joshua rechnete damals nicht damit, die Eltern und den Bruder jemals wiederzusehen. Er würde sich zukünftig alleine durchs Leben schlagen müssen. Besonders schmerzte ihn der Verlust der Mutter. Nur Roro war ihm geblieben. In der Stunde der Ungewissheit über ihr künftiges Schicksal hatten sie sich ewige Treue geschworen. Von diesem Tag an war der Hase für Joshua unersetzlich, denn er war bei ihm geblieben, als alle anderen ihn verließen.

      Immer wenn Joshua an diese schlimme Erfahrung denken musste, spürte er in der Brust einen undefinierbaren Schmerz. Ansonsten hatte er kaum Erinnerungen an seine frühe Kindheit.

      Aufbruch ins Gelobte Land

      Im Spätsommer 1942 hatte Joshua Rozenberg zur Tarnung den unverfänglichen Namen Pierre Thonnar angenommen. Mit seinem richtigen Namen, der ihn als Juden auswies, hätte er den Krieg schwerlich überlebt. Vom ersten Augenblick an fand er, dass der neue Name ihm wie ein Handschuh saß. Er hat sich so sehr daran gewöhnt, dass er ihn am liebsten für immer gegen seinen alten ausgetauscht hätte. Er gab ihm das Gefühl, ein Junge wie alle anderen zu sein.

      Joshua hatte immer Merkmale und Auffälligkeiten gescheut, die ihn zum Außenseiter oder Sonderling hätten abstempeln können. Wenn die Familie an hohen Festtagen die Synagoge4 aufsuchte, setzte er die Kippa5 erst beim Betreten des Gotteshauses auf, weil er befürchtete, er könne unterwegs einem Klassenkameraden begegnen, der ihn als Juden identifizieren würde.

      Joshua Rozenberg alias Pierre Thonnar wurde am 26. Dezember 1931 im polnischen Lodz als zweiter Sohn der Eheleute Ariel und Elsa Rozenberg geboren.

      An seine frühe Kindheit in Polen erinnert er sich kaum noch. Vermutlich sind die meisten Erinnerungen und Bilder, die noch in seinem Kopf spuken, das Resultat der Erzählungen seiner Eltern. Manches hat er irgendwann aufgeschnappt und so sehr verinnerlicht, dass er glaubt, es selbst erlebt zu haben. Wenn Vater oder Mutter von ihrer polnischen Heimat erzählten, tauchten in seiner Vorstellung belebte Märkte mit fremdartigen Gestalten auf, die lange Bärte und Hüte aus Zobel trugen.

      Lodz war die industrielle Herzkammer Polens. Die Stadt genoss den Ruf eines polnischen Manchester. Nach einer amtlichen Zählung waren mehr als ein Drittel der Einwohner, 230.000 von 670.000, Israeliten. Entsprechend augenfällig und vielfältig war das jüdische Leben: Es gab jüdische Zeitungen, jüdische Schulen, Theater und Sportvereine, Hospitäler und Waisenhäuser. Es gab an die 250 Synagogen.

      Viele Juden kamen aus den umliegenden Dörfern, den sogenannten Schtetl6. Die Suche nach Arbeit und Brot hatte sie in die Stadt gelockt. Mit der Unabhängigkeit Polens