Schattenkinder. Marcel Bauer. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Marcel Bauer
Издательство: Автор
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Жанр произведения: Историческая литература
Год издания: 0
isbn: 9783898019002
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Land verbliebene Autorität. Die Bischöfe waren bemüht, das religiöse Leben sicherzustellen und größeren Schaden von der Bevölkerung abzuwenden. Sie vermieden daher jede öffentliche Kritik an den Besatzern, solange diese sich nicht in die inneren Angelegenheiten der Kirche einmischten. In der Judenfrage blieb die katholische Kirche gespalten. Während viele Gläubige noch dem herkömmlichen Antisemitismus anhingen und die Juden wie eh und je als Gottesmörder betrachteten, suchten andere den religiösen Dialog mit dem »auserwählten Volk«.

      Der Bischof von Lüttich Louis-Joseph Kerkhofs bewegte sich anfangs auf der vorsichtigen Linie des Episkopates – obwohl er in der Vorkriegszeit in Hirtenbriefen unverblümt vor dem Neuheidentum der Nationalsozialisten gewarnt hatte, was ihm in deutschsprachigen Teil seines Bistums herbe Kritik und heftige Proteste einbrachte. Als die Nationalsozialisten 1940 im Hinblick auf eine bevorstehende Invasion Englands 3.000 Juden aus Antwerpen in die Provinz Limburg, die zu seinem Bistum gehörte, evakuierten, forderte er die katholischen Gemeinden auf, den Vertriebenen beizustehen. Zum Jahreswechsel machte er einer verzagten Bevölkerung Mut, indem er seine Zuversicht aussprach, dass der Krieg noch nicht verloren sei.

      Kerkhofs war im Volk beliebt. Obwohl er ein gebürtiger Flame war, sprach der wallonische Volksmund von »noss binamé – unser Vielgeliebter«. Als ihn 1942 Nachrichten erreichten, die keinen Zweifel daran ließen, dass die Nationalsozialisten die Vernichtung der Juden anstrebten, rückte er von der Beschwichtigungspolitik des Episkopates ab. In einem Rundbrief forderte er alle Priester seines Bistums dazu auf, den Schwächsten zu Hilfe zu eilen. Damit konnten nur die jüdischen Kinder gemeint sein, die überall herumstreunten. Bei Besuchen in Pfarreien erkundigte er sich bei Priestern und Ordensleuten, welchen Beitrag sie für die Rettung des Landes leisteten. Er ermutigte sie, entlaufene Zwangsarbeiter, geflüchtete Kriegsgefangene und rassisch Verfolgte aufzunehmen.

      Kerkhofs ging selber mit gutem Beispiel voran. So oft er konnte, nutzte er seine Stellung, um politisch oder rassisch Verfolgten zu helfen. Seinen Dienstwagen, den er aufgrund seines diplomatischen Status behalten durfte, benutzte er zum Transport von Flüchtlingen und illegalen Waren. Wenn er vom Stadtkommandanten die Erlaubnis erhielt, den berüchtigten Block 24 in der Lütticher Festung zu besuchen, wo die politisch Verfolgten auf ihr Urteil warteten, schmuggelte er Zigarren und Weinflaschen hinein, die nachher vom Gefängnisseelsorger Mathieu Voncken an die Inhaftierten verteilt wurden. Es war bekannt, dass der Bischof, der aus kleinen Verhältnissen stammte, keinen Bittsteller abwies und keinerlei Berührungsängste hatte.

      Kerkhofs war ständig in Sorge um das Schicksal der »Hebräer«, wie er im Sinne des Apostels Paulus die Juden nannte. Er sah in ihnen die Nachkommen Abrahams, des Stammvaters des Glaubens. Um sie zu retten, war er bereit, mit dem kommunistischen Widerstand und dem jüdischen Untergrund zu kooperieren. Kerkhofs förderte nach Kräften den »Gebetsbund für Israel«, eine Bewegung, die von der Ordensgemeinschaft Unserer Lieben Frau von Sion ausging, die 1843 von einem konvertierten Juden Théodore Ratisbonne gegründet worden war. Ratisbonne betrachtete es als die Mission seines Ordens, »in der Kirche und in der Welt die Treue und die Liebe Gottes für das jüdische Volk zu bezeugen«. Der Gebetsbund für Israel war um die Jahrhundertwende eine weltweite Bewegung mit 100.000 Mitgliedern.

      Für Louis-Joseph Kerkhofs war die Haltung der Kirche bezüglich der bedrängten Juden entscheidend für ihre Glaubwürdigkeit. Ohne die Juden namentlich zu nennen, äußerte er Kritik an der Judenverfolgung. Er hatte gute Gründe, vorsichtig zu sein, denn die belgischen Bischöfe hatten das Beispiel der benachbarten Niederlande vor Augen. Der Protest der beiden großen Kirchen und ein Hirtenbrief der katholischen Bischöfe gegen die Judenverfolgung im Juli 1942 hatten zu einer drastischen Verschlimmerung der Lage für die Juden geführt.

      Kerkhofs handelte pragmatisch. Öfter las er auf der Straße Kinder auf, die sich herumtrieben und Gefahr liefen, von der Polizei wie herrenlose Hunde gejagt und einmal eingefangen, in ein Erziehungslager gesperrt zu werden, das einer Strafanstalt glich. Kerkhofs brachte etliche dieser Kinder in kirchlicher Einrichtungen unter. Drei rumänische Juden, die sich als fliegende Händler durchschlugen, ließ er unter falschem Namen als Studenten im Priesterseminar von Sint-Truiden einschreiben. Auf dem Speicher seiner Residenz ließ er ein jüdisches Paar verstecken, was insofern problematisch war, weil die beiden nur verlobt und nicht verheiratet waren.

      Den belgischen Oberrabbiner Salomon Ullmann, der einen Hafturlaub aus dem KZ Breendonk zur Flucht genutzt hatte, nahm er als persönlichen Sekretär und Hauskaplan auf. Ullmann hatte sein Amt als Vorsitzender des Nationalen Judenrates niedergelegt, nachdem er erkannt hatte, dass der Judenrat nur ein willfähriges Instrument der deutschen Vernichtungspolitik war. Kerkhofs sorgte dafür, dass Ullmanns Frau und seine Töchter in Klöstern unterkamen.

      Kerkhofs nahm sich auch anderer Persönlichkeiten an wie des Vorstehers der Lütticher Synagoge und seiner Familie, die er im Wallfahrtsort Banneux am Rande der Ardennen verstecken ließ. Louis-Joseph Kerkhofs war ein tatkräftiger Förderer des Wallfahrtsortes, zu dem in der Vorkriegszeit trotz der Reisebeschränkungen viele deutsche Katholiken pilgerten. Er sah in den Marienerscheinungen vom Januar 1933 einen Fingerzeig Gottes. Ähnlich wie die Ereignisse von Fatima im Jahre 1917 als Warnung vor dem Bolschewismus verstanden wurden, sah er in denen von Banneux eine Verbindung zu Deutschland. In dem Moment, als Adolf Hitler und die Nationalsozialisten im Deutschen Reich die Macht an sich rissen, richtete die Jungfrau der Armen eine Botschaft des Friedens und des Gebetes an alle Nationen.

      Anders als die Unterbringung von Kindern erforderte die von Erwachsenen besondere Vorsichtsmaßnahmen, denn die NS-Behörden hatten 1940 für alle Erwachsenen Personalausweise eingeführt, was bis dahin in Belgien unüblich war.

      Falsche Papiere und geheime Unterkünfte besorgte der juristische Berater des Bischofs, der Notar und Rechtsanwalt Max-Albert Van den Berg. Seinen Vorrat an gefälschten Ausweisen verbarg dieser in seiner Kanzlei im Futter eines Ledersessels. Bei der Ausstellung von Pässen für die untergetauchten Juden musste Van den Berg darauf achten, dass die Fälscherwerkstatt nirgendwo Namen und Geburtsdaten von Kindern vermerkten, damit die deutschen Sicherheitsbehörden ihnen nicht auf die Spur kamen.

      Nach den Razzien in Antwerpen und Brüssel im Spätsommer 1942 hatte sich ein Komitee zur Verteidigung der Juden (CDJ) gebildet. Die jüdische Untergrundorganisation begann damit, verlassene und herumstreunende Kinder einzusammeln. Denn den deutschen Judenfängern und ihren lokalen Helfershelfern waren zwar viele Erwachsene ins Netz gegangen, aber nicht unbedingt deren Kinder.

      Wenn nachts jemand an ihre Türe klopfte, brachten manche Eltern ihre Kinder in vorbereitete Verstecke – in der Hoffnung, dass sich nachher jemand ihrer annehmen würde. Juden, die auf offener Straße oder an ihrem Arbeitsplatz aufgegriffen wurden, verschwiegen beim Verhör, dass sie daheim Kinder hatten. Andere hatten sich frühzeitig von ihren Kindern getrennt und sie in die Obhut von Freunden oder Nachbarn gegeben. In Belgien gab es Tausende solcher verlassenen und verlorenen Kinder, deren Überleben am seidenen Faden hing.

      Eine Schlüsselrolle bei der Rettung von tausenden Kindern spielte Andrée Geulen, die aus katholischem Umfeld kam, aber schon als Kind glaubte, herausgefunden zu haben, »dass es keinen Gott geben konnte« und sich daher früh der kommunistischen Bewegung angeschlossen hatte.

      Als an ihrer Schule, wo sie als pädagogische Praktikantin arbeitete, die ersten Kinder mit einem gelben Stern auftauchten, war sie so schockiert, dass sie ihren Beruf an den Nagel hing und als Erzieherin in ein jüdisches Waisenhaus wechselte. Als die Gestapo dort die Direktorin, ihren Ehemann und alle jüdischen Kinder festnahm, beschloss sie, etwas dagegen zu unternehmen.

      Sie trat dem Comité de Défense des Juifs (CDJ) bei. Dort machte sie Bekanntschaft mit Ida Sterno, einer gebürtigen Rumänin, die im CDJ für die Unterbringung und Betreuung der verlassenen Kinder zuständig war und Ausschau nach einer verlässlichen und unverdächtigen Partnerin hielt. Bald sprach man im jüdischen Untergrund von »einem blonden Engel mit blauen Augen«.

      Geulen und Sterno gingen allen verfügbaren Adressen nach, um ausgesetzte und verwaiste Kinder einzusammeln und sie dem Roten Kreuz und dem Nationalen Kinderhilfswerk zu übergeben, die sie wiederum an private und staatliche Einrichtungen weiterreichten oder bei Familien in Pflege gaben.

      Als alle Mittel und Möglichkeiten des