Bajass. Flavio Steimann. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Flavio Steimann
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783960541615
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der Kolonne vorbei, und die nächste Fuhre rückte nach. Die Zimmerleute hingen an leinenem Gurtzeug zwischen Himmel und Erde, warteten baumelnd auf die Verbindungsstücke, die, mit Flaschenzügen langsam gehievt, sich scheinbar gewichtlos in der Schräge drehten, bis die Männer sie zu sich heranzogen und mit den Bolzen aus den angehängten Werkzeugtaschen Stück für Stück zu einem hölzernen Gerüst verschraubten.

      Unter fleckigen Planen lagen kupferne Kabel und Isolatoren aus braunem Porzellan, vom Zelt mit der Funkstation war eine Leitung bis zum Mast gelegt, ein Ingenieur, der über seiner weißen Schürze eine lederne Pilotenjacke trug, hastete mit einem Kopfhörer auf und ab und erteilte durch ein Sprachrohr plärrend Instruktionen.

      Vom Waldrand aus sah Gauch Feierabend werden.

      Die Schläge der Hämmer wurden seltener und verstummten. Die Männer seilten sich behände wie Spinnen wieder auf die Erde. Der Hügel wurde still.

      Das Holzgerippe stand vor dem rötlich aufgehellten Himmel – ein schwarzes Wrack. Gauch träumte sich in seinen Bug.

      Bevor die Sonne sank, machte er sich auf und ging durch das Unterholz zurück zum Schlag.

      Die Vögel pfiffen sich in den Abend. Vom Tal stieg frischer Nebel.

      Gauch war müde.

      Er spürte seinen Bart.

      Im Gehölz ahnte er jetzt die Dunkelheit; von den drei Feuern stiegen drei gleiche Bänder. Er atmete mit Gier den Rauch, das Wasser holte ihn, er sank in eine Finsternis.

      Als er die Augen wieder öffnete, saß er auf einem nassen Stamm und fror. Durch seinen Schenkel sägte ein Schmerz. Unter den Decken lagen noch immer die verrenkten Scheuchen. Er hörte ein Geräusch und hob den Blick. Hinter den Leinen warteten die Sarger mit dem Gendarmen.

      Die beiden Toten waren auf Geheiß des Amtsleichenbeschauers tags drauf den Särgen wieder entnommen und – nachdem man sie in einer Pferdeambulanz hingefahren hatte – in der Prosektur der Stadt gerichtsmedizinisch obduziert worden. Sie lagen nackt, das Kinnband lose um den Hals, auf den marmornen Tischen des Leichen- und Sektionshauses. Ihre Körper waren vom Leben verbraucht, die knotigen Hände rissig und braun wie ihre Äcker. Über die verformten Köpfe zogen sich, notdürftig mit schwarzem Zwirn vernäht, tiefe Fissuren, zwischen denen graue Häute des Hirns zu sehen waren, die noch aufgeschminkten Gesichter mit den leicht geöffneten Mündern zeigten erste Leichenflecken. Der rotbärtige Obduzent, ein Hüne von beträchtlichem Umfang, der eine wadenlange, schlecht gebügelte Gurtschürze trug, die ihn, zusammen mit der gefältelten Chirurgenhaube, wie die welke Glocke eines mannsgroßen Märzenbechers aussehen ließ, zitierte aus dem Bericht, während Gauch die verdorrten Geschlechter des hingestreckten Paars betrachtete und alsdann die Phrasen, die in mit Gold ausgelegtem Latein ringsum auf dem steinernen Zinnenfries über den kahlen Klinkerwänden eingehauen waren.

      Den beiden Opfern seien Os frontale und paretiale in toto mehrfach scharf durchschlagen worden, dies mit teilweisem Verlust von Fragmenten der Calvaria, dazu dem Herrn Bauersmann der Os nasale und die Mandibula zertrümmert, seiner Frau Gemahlin, als sie wohl bereits am Boden gelegen habe, ein weiterer Hieb in den Os occipitale versetzt. Nicht eben wenig sei da zusammengekommen, wenn man bedenke, dass jede dieser Verletzungen am Neurocranium für sich allein genommen schon zum Exitus letalis führe; dies zufolge intracerebraler Blutungen, wie auch der Herr Kriminalist wohl verstehe.

      Der Spalthammer, der – verklebt mit Blut und Haaren und versehen mit einer braunen Etikette – auf dem Rolltisch mit den Instrumenten lag, sei unzweifelhaft als Tatwaffe anzusehen, beim delinquenten Subjekt müsse man von einer mittelgroßen, normal kräftigen und in Anbetracht der Hiebrichtung mit großer Wahrscheinlichkeit linkshändigen Person ausgehen, die den Leuten möglicherweise bekannt gewesen sei, da Abwehrverletzungen weitgehend fehlten.

      Eines zeige sich immer wieder, meinte er sodann, das krumme Holz Mensch sei zu mancherlei fähig, und so sehe es eben aus, wenn mehr als Butterblumen ermordet würden. Des Weiteren sei das Umbringen – bei aller Tragik – ein ubiquitäres Phänomen, und wenn man auch darüber staune, es gebe nicht wenige, die es gar als schöne Kunst betrachteten und besängen. Wie auch immer – nihil sine causa – unter all den Menschen, denen es schlechtgehe, gebe es halt nun einmal solche, die auf ihre Art vernommen, wenn auch nicht gesehen werden wollten, wenngleich die meisten ein Leben lang schwiegen. Gut möglich indessen, das wiederum sei in diesem Fall einzuräumen, dass ein aberranter Geist die Untat begangen habe, einer wie jener wirre und umnachtete Perückenmacher.

      Gehauen oder gestochen sei aber am Ende einerlei, erwischt hätte es den Alten allemal, gewiss nicht, wie jeder zu sehen vermöge, in Folge eines Mors in coitu, aber – und er bleckte die Zähne – den Rest gegeben hätte ihm in Bälde sein Cancer scroti.

      Von dannen zu gehen, fuhr er dann fort und schob Gauch mit dem Fuß einen stählernen Hocker zu, bedeute zweifelsohne etwas Tragisches, es sei aber hinlänglich bekannt, dass auf dieser Welt kein Bestand sei. Noch während des Redens hatte der Rechtsmediziner den beiden Toten Kappen aus Mull über die Köpfe gezogen und ihre Leiber mit karbolgetränkten Tüchern zugedeckt. Nur die knochigen, verschwielten Füße waren noch zu sehen, an deren rechter großer Zehe mit dünnem Messingdraht die Etikette befestigt war mit dem wenigen drauf, was von ihnen bis zum endgültigen Vergessen auf dieser Erde noch bleiben würde.

      Dann griff sich der Obduzent die Blauband, die in der Instrumentenschale zwischen Wundhaken und Knochenzangen lag, zündete den Fidibus, nachdem er damit seinen Schmiss unter dem linken Auge gestreichelt hatte, an einem Bunsenbrenner an und hielt die Flamme an die Spitze, bis hinten ein dünner Rauchfaden aus dem Strohhalm stieg. Mit der dunklen Brissago im Mundwinkel band er die marmorierte Kartonmappe, in die er den unterschriebenen Bericht gelegt hatte, zu und gab sie Gauch in die Hand. Dann nahm er einen langen Zug, so dass die Glut hell aufleuchtete, ließ bläuliche Kringel aus seinem Karpfenmaul gegen die hohe Decke steigen und schaute ihnen eine Weile sinnend nach.

      Die Seelen der Toten, denke er, so die Herren Theologen Recht hätten und es solche überhaupt gebe, würden sich wohl verhalten wie der Rauch, der für eine kurze Zeit nur noch Form und Struktur und damit das, was man Existenz nenne, bewahre. Dann wandte er den Blick auf die Spitzen seiner neuen Schuhe und schwieg.

      Bevor Gauch die Stille nutzend in Erwägung ziehen konnte, den doctor medicinae scheinbar beiläufig und ohne tieferen Grund über die Gefährlichkeit von Thrombosen und Schlaganfällen auszufragen, hatte sich dieser schon längst mit einer verstörenden Bestimmtheit bei ihm untergehakt, ihn mit der Kraft einer eisernen Zwinge haltend vom Hocker aufgezogen und mit einem schwer deutbaren eisigen Lächeln Glück für die Ermittlungen wünschend durch den hinteren Ausgang in den kleinen Park geleitet, wo er ihm mit einem knappen Gruß den gekiesten Weg zurück zur Straße wies.

      Als Gauch, nicht ohne Erleichterung, schon ein paar Schritte gegangen war, rief ihn der streng nach Chlor und Äther riechende Chirurgus noch einmal winkend zurück. Was nicht im Bericht stehe, er aber auf den ersten Blick wohl gesehen habe – auch die Bäuerin sei nicht mehr die Gesündeste gewesen. Adipositas cordis, er wies drei Mal nacheinander mit dem Halm der Blauband auf seine linke Brust, ein Fettherz halt – wie meistens beim Bauernstand vom vielen Eberfleisch.

      Am Ende der Mauer, als Gauch für einen Augenblick stehen blieb, um einen letzten verstohlenen Blick zurückzuwerfen auf diesen beklemmenden Ort, sah er, wie der kolossale Pathologe einen Flachmann aus den Tiefen seines knittrigen Umhangs zog, ihn vor dem Öffnen nahe am Ohr prüfend schüttelte und dann an die wulstigen Lippen setzte, den Schraubdeckel und die Virginia in der rechten Hand und den Blick unbewegt auf der vom Regen grün vermoosten Inschrift im steinernen Giebeldreieck über seinem Kopf.

      MORTUI VIVOS DOCENT.

      Zu Leonidas waren die schwarzen Tannensärge auf zwei ungleichen Katafalken, deren einer beim benachbarten Pfarramt von Seeweiler hatte ausgeliehen werden müssen, im Chor der Zeller Dorf- und Bittkirche St. Marien nebeneinander aufgestellt worden.

      Um der hiesigen Tradition nachleben zu können, hatte man die Gandbauern am Vortag für ein letztes Mal auf ihren Hof geführt und in einer unversiegelten, mit Efeu und Tannenreisig