Bajass. Flavio Steimann. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Flavio Steimann
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783960541615
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die in der steten Feuchtigkeit dahin-moderten, erstickten unter Schwämmen und Flechtenbärten.

      Gauch versuchte, auf den Rändern des Hohlwegs zu bleiben, wenn das Kraut überhandnahm, blieb ihm indes nichts anderes übrig, als durch den schweren Schlick zu gehen.

      Dabei dachte er an die Zigeuner. Er sah einen Fahrenden mit breitem Gesicht und verwachsenem Bein, das er hinter sich herschleppte, wenn er vor die Häuser kam, um dem argwöhnischen Bauernvolk in einem gehetzten Deutsch Schirme und Scheren zum Flicken und Schleifen abzunötigen. Und er zog mit diesen fremden Menschen durch ihr fremdes Land – er lag auf dem Boden ihres Wagens, ließ das Stoßen der harten Federn durch seinen Körper fahren, atmete mit dem Kopf zwischen den flirrenden Rädern Staub und Pferdegeruch und rollte die hellen Bänder der Straßen hinter seinen Augen auf.

      Das Ried, über dem fern ein Faden hing aus schwarzem Rauch, lag weitab von jeder Behausung. Gauch zog den Hut ins Gesicht, benützte ihn als Bug und teilte vornübergeneigt das Schilf mit seinen Schultern.

      Auf der kalten Erde, vom Wind geschützt, war der Schnee weit in den Morgen hinein liegen geblieben und verdeckte das ölige Wasser. Stand Gauch still, war unter den Füßen ein Wanken, ein Beben, von dem er nicht wusste, ob es vom Boden kam oder aus seinem Innern. Er erschrak, drängte vorwärts, wusste längst nicht mehr, wo er war, er fühlte sich gefangen, wollte flüchten vor diesem trockenen Rauschen, das bald ein Klirren wurde, er ging – immer schneller nun – mit geschlossenen Augen, schnitt sich blind hastend am scharfen Röhricht, wollte nur heraus aus dem irren Verlies.

      Als er endlich auf die kleine Sandbank trat mit der Tränke, fand er den Platz verlassen. Das Feuer war erst vor kurzem erloschen, die Kiesel in der Asche noch warm wie bebrütete Vogeleier. Durch den feuchten Sand liefen die Gleise von eisernen Reifen und verloren sich.

      Der Wind hatte mittlerweile nachgelassen, nichts bewegte sich, nur zwei, drei der frühen Schwalben holten Wasser aus dem See, ritzten im Flug mit einem kurzen Strich die glasige Oberfläche.

      Gauch suchte am Ufer nach einem flachen Stein und ließ ihn aufhüpfend übers Wasser schiefern. Als er versunken war, schaute er zurück gegen den Berg. Dann machte er sich auf und folgte den Spuren der Wagen.

      Weit waren die Zigeuner nicht gezogen; vom Landvolk gewiesen, fand er sie am späteren Morgen alsbald im Spitzholz, ihrem nächsten Lagerplatz gleich nach dem Fluss, der in leichtem Bogen das flache Land durchzog und die Grenze zum Freienamt bildete, wo man ihr Dasein – so wollten es die Gesetze – bis zum nächsten Leermond wohl oder übel erdulden musste, bevor der Büttel der Gemeinde sie wieder von der kleinen Allmend vertreiben durfte.

      Ihre Gefährte standen abseits der Fahrstraße auf einem etwas geschützten Feld im Schachen. Überall hatten die Mäuse ihre Haufen geworfen, an den Gräben mit den struppigen Köpfen der Weidenstrünke, die das Landstück im Schatten schnitten, bildete der Vorabendschnee, von der Nachtkühle vor dem Schmelzen bewahrt und um diese Zeit von einem ungewohnten Sonnenlicht erhellt, samtig gesäumte Biesen.

      Gauch näherte sich im Schutz des Gehölzes dem Lager und blickte zwischen aufgehängter Wäsche in das Rondell der Wagenburg, die sich mit ihren runden verwaschenen Planenverdecken wie eine fette Raupe in einem halben Kreise um die Lichtung zog.

      Eines der grasenden Pferde, die aus Hanf geflochtene Halfter trugen, äugte argwöhnisch vom eingezäunten Weidstück, ein schmutziges Kind spielte auf einer Wagentreppe sich reckend mit Scheren, die am brusthohen Hinterrad an einem Drahtring aufgehängt baumelten. Ein brauner Knabe, schwarzsträhnig und mit zugeknotetem Leinenhemd, ließ in der Mitte des Platzes einen jungen Hengst an der Longe kreisen; das falbe Tier, das noch wenig erzogen war, tat allerhand Sprünge und ließ sich unvermittelt auf die Seite fallen, wälzte sich über den Rücken rollend und mit den Beinen schlagend über das frühlingsfrische Gras zwischen nassem Laub, bis es schmutzig geworden war und der Alte, der mit einer Kette aus Gänseblümchen spielend lange zugesehen hatte, mit einem energischen Pfiff dazwischenfuhr.

      Auf einer Matte, vor einem ungarischen Gehänge, das über eine Doppeldeichsel ausgebreitet trocknete, lag eine Frau in bunten Tüchern, auf ihrem Bauch ein halbnacktes Kind, dem sie die Brust zum Saugen gab, eine zerfurchte Alte mit dicken Schürzen blies in die Glut eines Samowars, zwei Männer kauerten vor einem Tiegel mit kochendem Guss, um den herum allerlei Geflügel Würmer aus dem Boden zerrte, andere in Hüten aus Leder oder Filz hockten rauchend im Kreis und flochten an Körben und Stühlen.

      Gauch ließ die Leute machen und ging einem Graben entlang langsam zum Fluss. Mit der wärmenden Sonne im Rücken stand er zwischen spätem Huflattich auf einer sandigen Bank und schaute lange ins Wasser, bis er durch die aushallenden Hammerschläge des Kaltschmieds kaum vernehmbar das Stimmen einer Geige vernahm. Er ging den Tönen nach zurück zur Lichtung.

      Hinter dem letzten Wagen entdeckte er die Kindfrau. Sie stand kaum zwei Armlängen von ihm entfernt, getrennt nur durch eine aufgehängte Häkeldecke aus dickem Garn, durch die er sie – trotz des verschatteten Lichts – wie ein Fechter durch seine Maske erkennen konnte; breitbeinig, das verbrauchte Instrument zwischen Kinn und Schulter, schaute sie, die Augen halb geschlossen, leer und nicht wirklich mit einem finsteren in sich gekehrten Blick und geigte, spielte. Etwas Unheimliches ging von ihr aus, wenn sie die Saiten strich, etwas, was Gauch in die Mitte traf; in den Tönen wuchs dieser junge Mensch in ein Erwachsensein, das ihm den Atem nahm und ihn verstörte. Gauch fror, ohne kalt zu haben, und stand wie berauscht. Das Zuhören war ein Schmerz, den er aber wollte, immerfort hingen seine Augen an diesen braunen Händen, die ihn bannten, an dieser Blöße, trotz des geschnürten Göllers. Als die junge Geigerin am Ende des Stücks, das ganz anders war als die schmierigen der Kneipenfiedler, in unbewegter Pose, den Bogen noch auf den Saiten, lange verweilte, bis der letzte Ton verklungen und auch das Holz unter dem Steg wieder vollkommen zur Ruhe gekommen war, wünschte Gauch nichts sehnlicher, als dass sie von neuem und immer weiter musiziere. Aber eine rauchdunkle Frauenstimme hatte streng nach ihr gerufen. Sie gab eine Antwort in einer Sprache, die er nicht verstand, nahm das Instrument vom Kinn, entspannte den schütteren Bogen und tat beides ohne Sorgfalt zurück in einen hölzernen Kasten, an dem der Griff fehlte und dessen spärlich verbliebene Belederung in Fetzen herunterhing, ließ alles auf der Wagentreppe liegen und stieg langsam hinauf in das Innere.

      Später, nachdem Gauch lange ohne den Willen zum Gehen kaum zehn Schritte weiter auf einer Erhebung unentschieden gestanden hatte, sah er sie noch einmal mit freiem Auge im hellen Licht. Sie hatte einen Laut gehört und blieb ihm einen Atemzug lang zugewandt, dann drehte sie sich um und folgte der Witterung des Rauchs.

      Die Geigerin war wieder ein großes Kind, der tote Blick war ihm geblieben und die tiefe Furche zwischen den pergamentenen Augen; es trug ein korallenfarbenes Tuch um den Kopf und jetzt auch am linken Ohr wieder ein Gehänge aus klimpernden Münzen, hatte, nachdem es mit einem Haselstock in pendelnden Bewegungen einen Weg ertastend langsam über den Platz gegangen war, sich eine Schürze umbinden lassen und saß bei der Alten, die nun über dem Feuer kochte, rittlings auf einem Sattelbock, die blinden Augen zur Sonne gewandt und die Hände in einem Becken mit jungem Löwenzahn, den es wusch – immer wieder auflachend, wenn die nassen Blätter widerspenstig an ihren Fingern mit den Ringen aus Rotgold hängen blieben.

      Bevor Gauch einen Mörder gesehen hatte, schlugen die Hunde an.

      Über den gleichen Weg, das Moor nun aber auf der Straße umgehend, hatte Gauch wieder die Höhe des Hügels gewonnen, unweit des letzten Gehölzes erkannte er im Licht der tiefen Sonne von weitem die flachen Dächer des Hofs.

      Der Kahn war eingelaufen. Im leeren See trieben silbergrüne Schlieren.

      Hinter der Waldung beim Tannbühl ragte etwas hell in den Himmel. Es war der Mastbau für die Nachrichtenfunkstation.

      Das Holzskelett stand auf dem höchsten Punkt über dem Tal – drei der vier Pfeiler waren bereits aufgerichtet und miteinander verbunden, der letzte wurde eben auf dem noch eingeschalten Fundament aufgebaut. Auf der Zufahrt zum Bühl stand ein Konvoi von Gespannen, die auf tiefen Schemelwagen Bauholz zum Wendeplatz schleppten. Sobald ein Fuhrwerk hielt, wurden die schweren Sparren von einem Trupp auf Kommando des Poliers geschultert, und während ein solcher Tausendfüßler langsam über den Prügelweg zum Abbindplatz